(English version HERE)
Etliche Male bin ich an diesen wunderbar-seltsamen Geschöpfen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe vorbeigelaufen; es sind insgesamt zwölf. Sie haben mir immer gefallen; allerdings fand ich sie nicht allzu wichtig, da ich sie irrtümlich für Skulpturen hielt. Bis ich endlich einmal den Begleittext an der Wand las und mir klar wurde, dass ich keine Skulpturen, sondern Kostüme bzw. Ganzkörpermasken vor mir hatte. Zwischen 1920 und 1924 führten ihre Schöpfer, Lavinia Schulz und Walter Holdt, in diesen und einigen anderen Masken selbstchoreographierte expressionistische Ausdruckstänze auf. Ohne Zweifel waren die beiden nicht weniger kreativ als Oskar Schlemmer mit seinem Triadischen Ballett am Bauhaus-Theater, und zeitweilig waren sie damit auch erfolgreich. Trotzdem endete die Geschichte dieses Künstlerpaares tragisch, und heute sind die beiden so gut wie vergessen. Grund genug, neugierig zu werden.
Wahrscheinlich Walter Holdt und Lavinia Schulz, 1922
(Foto: unbekannt)
(Foto: unbekannt)
Dieses Bild ist ein Ausschnitt aus einem Gruppenfoto, entstanden am 10. oder 11. Februar 1922 auf dem Künstlerfest Der himmlische Kreisel im Hamburger Curiohaus. Es ist nicht mit letzter Sicherheit geklärt, ob die beiden auf dem Foto wirklich Lavinia Schulz und Walter Holdt sind, aber wenn, dann wäre dies das einzige erhaltene Bild, das Lavinia Schulz und Walter Holdt unmaskiert und unkostümiert zeigt, und das einzige von Walter Holdt überhaupt.
Lavinia Berta Schulz (* 23. Juni 1896 in Lübben/ Lausitz) musste mit 14 Jahren eine komplizierte Ohr-Operation über sich ergehen lassen; die Rekonvaleszenz setzte sie ein Jahr lang außer Gefecht. 1912, im Alter von 16 Jahren, kam sie nach Berlin. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, was genau sie in Berlin gemacht und wo sie gewohnt hat. Da ihre Skizzen und Werke jedoch deutlich die Spuren einer akademischen Ausbildung aufweisen, muss sie Malerei studiert haben, dazu wohl auch Schauspielerei und Ballett.
Sie fand Zugang zum Sturm-Kreis um den Galeriebesitzer und Verleger Herwarth Walden (1878-1941). Zu den heute bekanntesten Künstlern, die aus diesem Zirkel hervorgingen, gehörten Waldens zeitweilige Ehefrau Else Lasker-Schüler (die sich auch sein Pseudonym ausgedacht hat; Waldens tatsächlicher Name war Georg Lewin), ebenso der Hannoveraner Allround-Dadaist Kurt Schwitters, der seine ersten Gedichte im Sturm veröffentlichte. Waldens Dramaturg Lothar Schreyer (1886-1966) gab Lavinia einen Job an der Sturmbühne, zunächst als Kostümbildnerin und Schneiderin. Offenkundig überzeugte sie ihn aber schon bald auch von ihrem Schauspiel- und Tanztalent.
Wenn man Schreyers Memoiren glaubt, dann löste Lavinia Schulz im Oktober 1918 einen mittleren Theaterskandal aus, als sie in dem Stück Sancta Susanna des Sturm-Hausdichters August Stramm nicht nur sehr expressionistisch sang (Schreyer nannte das "Klangsprechen"), sondern auch eine Nacktszene hatte. Angeblich lag die eine Hälfte des Publikums überwältigt am Boden, während die andere Hälfte lautstark empört war, zudem habe die Polizei das Ensemble vor wütenden Demonstranten vor dem Gebäude schützen müssen.
Wahr ist, dass Stramms etwa dreißigminütiges Drama recht drastisch die Not einer jungen Nonne mit dem zölibatären Leben problematisiert, und das Militärische Oberkommando hatte verfügt, für die Aufführung dürfe nicht öffentlich geworben werden. Doch ganz so gewaltig, wie sich Schreyer das vermutlich gewünscht hätte, war der Skandal wohl doch nicht. Der leicht spöttischen Rezension des Abends in der Vossischen Zeitung vom 16. Oktober 1918 ("Theaterstürmchen") jedenfalls ist zu entnehmen, dass Lavinia keineswegs vollständig nackt tanzte, sondern eine Art Mini-Bikini trug. Auch das Publikum, das ja wegen der fehlenden Werbung fast nur aus Mitgliedern des Trägervereins der Sturmbühne bestand, wusste, was zu erwarten stand und blieb ruhig und geduldig. - Die Radikalität von Schreyers Inszenierung dürfte gleichwohl verstörend genug gewirkt haben.
Ob es am Abend der Aufführung tatsächlich Demonstranten vor dem Haus gab, ist nicht mehr zu klären. Vorstellbar wäre es aber durchaus, denn in Hamburg hatten konservative und katholische Kreise sehr heftig gegen eine andere Fassung des Stücks (eine von Paul Hindemith vertonte Version) protestiert und ein Verbot gefordert. Das hatte dann in der Tat Gegendemonstrationen von Kommunisten, Sozialdemokraten und Wandervogel-Mitgliedern nach sich gezogen.
Lavinia Berta Schulz (* 23. Juni 1896 in Lübben/ Lausitz) musste mit 14 Jahren eine komplizierte Ohr-Operation über sich ergehen lassen; die Rekonvaleszenz setzte sie ein Jahr lang außer Gefecht. 1912, im Alter von 16 Jahren, kam sie nach Berlin. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, was genau sie in Berlin gemacht und wo sie gewohnt hat. Da ihre Skizzen und Werke jedoch deutlich die Spuren einer akademischen Ausbildung aufweisen, muss sie Malerei studiert haben, dazu wohl auch Schauspielerei und Ballett.
Sie fand Zugang zum Sturm-Kreis um den Galeriebesitzer und Verleger Herwarth Walden (1878-1941). Zu den heute bekanntesten Künstlern, die aus diesem Zirkel hervorgingen, gehörten Waldens zeitweilige Ehefrau Else Lasker-Schüler (die sich auch sein Pseudonym ausgedacht hat; Waldens tatsächlicher Name war Georg Lewin), ebenso der Hannoveraner Allround-Dadaist Kurt Schwitters, der seine ersten Gedichte im Sturm veröffentlichte. Waldens Dramaturg Lothar Schreyer (1886-1966) gab Lavinia einen Job an der Sturmbühne, zunächst als Kostümbildnerin und Schneiderin. Offenkundig überzeugte sie ihn aber schon bald auch von ihrem Schauspiel- und Tanztalent.
Lothar Schreyer
(Foto: unbekannt)
Wenn man Schreyers Memoiren glaubt, dann löste Lavinia Schulz im Oktober 1918 einen mittleren Theaterskandal aus, als sie in dem Stück Sancta Susanna des Sturm-Hausdichters August Stramm nicht nur sehr expressionistisch sang (Schreyer nannte das "Klangsprechen"), sondern auch eine Nacktszene hatte. Angeblich lag die eine Hälfte des Publikums überwältigt am Boden, während die andere Hälfte lautstark empört war, zudem habe die Polizei das Ensemble vor wütenden Demonstranten vor dem Gebäude schützen müssen.
Wahr ist, dass Stramms etwa dreißigminütiges Drama recht drastisch die Not einer jungen Nonne mit dem zölibatären Leben problematisiert, und das Militärische Oberkommando hatte verfügt, für die Aufführung dürfe nicht öffentlich geworben werden. Doch ganz so gewaltig, wie sich Schreyer das vermutlich gewünscht hätte, war der Skandal wohl doch nicht. Der leicht spöttischen Rezension des Abends in der Vossischen Zeitung vom 16. Oktober 1918 ("Theaterstürmchen") jedenfalls ist zu entnehmen, dass Lavinia keineswegs vollständig nackt tanzte, sondern eine Art Mini-Bikini trug. Auch das Publikum, das ja wegen der fehlenden Werbung fast nur aus Mitgliedern des Trägervereins der Sturmbühne bestand, wusste, was zu erwarten stand und blieb ruhig und geduldig. - Die Radikalität von Schreyers Inszenierung dürfte gleichwohl verstörend genug gewirkt haben.
Ob es am Abend der Aufführung tatsächlich Demonstranten vor dem Haus gab, ist nicht mehr zu klären. Vorstellbar wäre es aber durchaus, denn in Hamburg hatten konservative und katholische Kreise sehr heftig gegen eine andere Fassung des Stücks (eine von Paul Hindemith vertonte Version) protestiert und ein Verbot gefordert. Das hatte dann in der Tat Gegendemonstrationen von Kommunisten, Sozialdemokraten und Wandervogel-Mitgliedern nach sich gezogen.
Weil das politische Berlin jener Jahre sehr unruhig war, beschloss Schreyer, zurück nach Hamburg zu ziehen. Er war dort wohlbekannt, denn er hatte von 1911 bis 1918 als Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus gewirkt. Nun gründete er seine eigene Kampfbühne, eine als Verein organisierte Gruppe von Schauspielern und Unterstützern. Geprobt und gespielt wurde in der Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld (der heutigen Hochschule für bildende Künste, HfbK), eine eigene Spielstätte hatte der Verein nicht. Schreyer bat Lavinia Schulz, ihm nach Hamburg zu folgen, was sie 1919 tat.
An der Kampfbühne lernte sie Walter Holdt (* 20. Dezember 1899 in Hamburg) kennen. Er stammte aus einer Kaufmannsfamilie, hatte zunächst auch selbst eine kaufmännische Ausbildung gemacht, war durch Empfehlung des Schauspielhauses zur Kampfbühne gekommen und war ein hervorragender Tänzer. Darüber hinaus ist so gut wie nichts über ihn bekannt.
Es muss wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Da aber sowohl Walter als auch Lavinia befürchteten, ihre Eltern würden einer Heirat nicht zustimmen, und sie auf eine bürgerliche Hochzeitsfeier im Kreise der gesamten Verwandtschaft ohnehin keinen Wert legten, heirateten sie heimlich am 30. August 1921.
Lavinia Schulz als Verkündigungsengel in Schreyers "Krippenspiel",
Kampfbühne, 1919
Kampfbühne, 1919
(Foto: unbekannt; Nachlass Schreyer)
Lavinia Schulz war eine höchst impulsive und emotionale Person. Auseinandersetzungen mit ihrem Mann endeten nicht selten handgreiflich. Schreyer zufolge konnte die Zusammenarbeit mit ihr eine "harte Nervenprobe" sein. Sie selbst schrieb in einem Brief: "Seit dem 17. Jahr empfinde ich mein Leben nur wie ein Fegefeuer, wann werde ich durch sein?" Der Komponist Hans Heinz Stuckenschmidt, der in den Jahren 1921/22 mit Schulz und Holdt die Wohnung teilte, schrieb auf, was Lavinia bei ihrer ersten Begegnung mit ihm gesagt hatte: "Entbehrung, Hunger, Kälte, nordische Landschaft mit Sturm, Eis und Katastrophen: Das sei ihre Welt, und darin habe sie sich mit Holdt gefunden." - Das klingt pathetisch und war es wohl auch.
Lavinia Schulz: Zwei Selbstportraits (Bleistift, undatiert)
Der Kunsthistorikerin Athina Chadzis zufolge beschäftigte das Paar vor allem
- die Begegnung mit der Industrie und die durch sie bedingten neuen Lebensformen,
- das Verhältnis zwischen Kunst und Geldverdienen durch Kunstschaffen,
- ob und wie Religion und Kult Antrieb oder Inhalt von Kunst sein sollten,
- die nordische Sagen- und Gedankenwelt, die sie als Kultur der christlichen und jüdischen Religion entschieden (bis zur Polemik) vorzogen,
- die durch den Krieg verlorene nationale Identität neu zu definieren.
Die beiden sahen die Edda als ihr Heiliges Buch an. Sie haben zwar keine theoretischen Schriften oder dergleichen Material hinterlassen; ihre Weltsicht lässt sich jedoch aus Briefen und Notizen sowie Berichten ihrer Freunde und Mitstreiter ableiten.
Obwohl er Lavinia Schulz für seine begabteste Studentin hielt, sah Schreyer schließlich keine Möglichkeit zur weiteren Zusammenarbeit an der Kampfbühne mehr. Die "exzentrischen Ausbrüche" von Schulz und Holdt, die bis zur Prügelei auf offener Bühne gingen, waren einfach zu heftig, so dass ihm keine andere Wahl blieb als die beiden zu feuern. (Die Ära Kampfbühne endete ohnehin im Jahr 1921 mit Schreyers Berufung ans Weimarer Bauhaus, wo er allerdings nicht sehr glücklich wurde.)
Lavinia Schulz und Walter Holdt taten sich postwendend unter dem Namen Die Maskentänzer zusammen.
Briefkopf
Von diesem Augenblick an ließen die beiden keinerlei Trennung von Kunst und Alltag mehr zu. In einer nahezu religiösen und später selbstzerstörerischen Weise widmeten sie ihr Leben vollständig den expressionistischen Maskentänzen, die sie von nun an entwickelten.
Sie lebten im Keller einer Mietskaserne am Besenbinderhof, nahe dem Hamburger Hauptbahnhof, ohne Bodenbelag, warmes Wasser und Bett, sie schliefen in Hängematten.
Sie entwarfen Kostüme (sie nannten sie "Ganzkörpermasken") und fertigten sie auch selbst an. Diese Masken waren perfekt zugeschnitten und stabil genäht; niemand weiß, wo die beiden das gelernt haben. Die verwendeten Materialien sprechen dafür, dass sie wenig kosten durften: Sackleinen, Sperrholz, Pappe, Draht, Gips, Pappmaché, Industrieabfälle; diverse Applikationen stellten sie aus Haushaltsgegenständen her.
Großen Einfluss auf ihre Arbeit übten ganz sicher die Werke Lothar Schreyers aus, doch wie der Konservator Stanislaw Rowinski bemerkt hat, folgt die Farbgebung der Masken gelegentlich auch esoterischen Regeln, ebenso sind mystische oder sonstwie esoterische Symbole auf den Masken zu finden. Einige davon, etwa das Vier-Elemente-Zeichen, gehen auf Johannes Itten zurück, mit dem Lavinia anscheinend in Briefkontakt stand.
Vier-Elemente-Zeichen nach Johannes Itten
(Rot = Feuer/Geist, Gelb = Luft/Person, Grün = Wasser/Wort, Blau = Erde/Mensch);
auf der Gesichtsmaske "Sie"
Lavinia Schulz: Maskenskizze (Bleistift, undatiert, wohl nicht realisiert)
Lavinia Schulz: Maskenkopfskizzen (Bleistift, undatiert)
Von innen waren die Masken nicht sehr angenehm; hervorstehende Nägel, offene Drahtenden und scheuernde Nähte machten es notwendig, dass die Tänzer zum Schutz ihre Gesichter bandagierten. Die Kostüme waren obendrein sehr schwer, und den Tänzen war das wohl gelegentlich auch anzusehen. Doch das war Prinzip: Schulz und Holdt lehnten jede Erleichterung ab. Kunst hatte anstrengend zu sein, sonst konnte sie nicht ernstgenommen werden.
Maskenkopf, unvollendet
Schulz und Holdt entwarfen ihre eigenen Choreographien und führten sie auf, gelegentlich unter Mitwirkung einiger Balletttänzer. Lavinia entwickelte ein eigenes grafisches Notationssystem für ihre Choreographien (wodurch einige der Tänze heute wenigstens ansatzweise rekonstruierbar sind). Von einigen dieser Zeichnungen fertigte der Künstler Heinrich Stegemann eine Holzschnittmappe an.
Heinrich Stegemann: Tanzschrift Lavinia Schulz (Deckblatt, 1921)
Choreographische Skizze aus "Mann und tote Frau"
Weitere Tanz- und Bewegungsskizzen von Lavinia Schulz (Bleistift, undatiert)
Weitere Tanz- und Bewegungsskizzen von Lavinia Schulz (Bleistift, undatiert)
Zeitgenössischen Kritiken zufolge war Lavinia wohl der kreativere Kopf, Walter war dafür der bessere und diszipliniertere Tänzer, der seine Mittel genau kannte und einzusetzen wusste. Hans Heinz Stuckenschmidt, mit dem sie zwei Jahre lang zusammenwohnten, schrieb spezielle Musikstücke für ihre Aufführungen. Eines davon hieß Expression violett - was auf eine synästhetische (man könnte auch sagen: multimediale) Sichtweise hindeutet, mit der der Komponist diese Zusammenarbeit anging.
Spätestens 1921 waren die Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt eine wohlbekannte Größe nicht nur innerhalb der "Hamburger Secession", wie die expressionistische Theater- und Kunstszene der Hansestadt hieß, sondern auch überregional waren sie keine Unbekannten mehr.
Veranstaltungsplakat, wohl 1922
(Holzschnitt, wahrscheinlich von Heinrich Stegemann)
(Auf
Plakaten, in Almanachen und Einladungen taucht Lavinias Name auch in
der Schreibweise "Lawinia Schultz" auf; Walter verwendete aus
unbekannten Gründen gelegentlich das Pseudonym "Hold Omm").
Lavinia Schulz' und Walter Holdts einzigartige Performances gehörten zu den Höhepunkten mindestens zweier der legendären mehrtägigen Künstlerfeste im Hamburger Curiohaus. Diese Feste waren keine nur lokale Angelegenheit. Sie hatten fantastische Titel und wurden deutschlandweit beachtet. Für Die Götzenpauke (1921) ist ein Auftritt der Maskentänzer nicht belegt, aber 1922 bei Der himmlische Kreisel und 1924 bei Cubicuria - die seltsame Stadt waren sie dabei; letzterer war anscheinend ihr letzter Auftritt überhaupt. Unter den Besuchern und Organisatoren fanden sich hochrangige Künstler - Fritz Kortner, Gustaf Gründgens, Paul Kemp, Klaus und Erika Mann, Willi Davidson, Hans Leip, Hans Henny Jahnn, um nur einige zu nennen.
Die Performances von Schulz/Holdt gehörten zu den markantesten Erscheinungen der gesamten Tanzszene der Weimarer Republik. Die musste man einfach gesehen haben. Und der Expressionismus war zu diesem Zeitpunkt keine Modeerscheinung mehr; spätestens mit Robert Wienes (noch heute beeindruckendem) Film Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) war der Expressionismus zu einer seriösen Kunstbewegung geworden, die nicht mehr zu ignorieren war.
"Der himmlische Kreisel", Künstlerfest-Plakat, 1922
(Druck nach einem Linolschnitt von Emil Maetzel)
Interessanterweise haben Schulz und Holdt, obwohl sie tief beeinflusst vom und involviert in den Expressionismus waren, sich selbst nie als Teil dieser Bewegung sehen wollen. In einem Brief schrieb Lavinia: "Expressionismus ist keine Lösung; Expressionismus hat mit Industrie und Maschinen zu tun" - und diesen industriellen Touch verachteten sie aus ganzer Seele. Dieses Statement macht auch klar, worin der wesentliche Unterschied zwischen Schulz/Holdt und der "Schlemmer-Schule" am Bauhaus bestand: Letztere war viel mehr an Architektur und formalen technischen Gesichtspunkten der Aufführungen interessiert, auch wenn die Ergebnisse bis zu einem gewissen Grad vergleichbar waren.
Lavinia Schulz und Walter Holdt waren, ihrer Vorstellung von der Einheit von Kunst und Leben folgend, normalerweise nicht bereit, sich für ihre Aufführungen bezahlen zu lassen. Jede Art von Bezahlung sahen sie als Verrat an ihrer künstlerischen Unabhängigkeit an. Zitat aus einer Notiz von Lavinia:
"Es wird sich mancher unter ihnen [den Zuschauern] gewundert haben, dass wir unsere künstlerischen Darbietungen oder Veranstaltungen unentgeltlich geben. Man kann Geistiges nicht für Geld verkaufen. Geist und Geld sind zwei feindliche Pole, und wenn man Geistiges für Geld verkauft, so hat man den Geist an das Geld verkauft und hat den Geist verloren."
Natürlich führte diese Einstellung schon bald zu Geldproblemen, die sie ihr Leben lang nicht mehr loswurden. Um über die Runden zu kommen, stellten sie wahrscheinlich Kostüme für Künstlerkolleginnen und -kollegen her und hielten sie in Ordnung, im übrigen arbeitete Walter als Kaufmann, vermutlich im elterlichen Unternehmen. Auf die Dauer erwies sich dies aber als unvereinbar mit den eigenen künstlerischen Plänen, und so gab er diesen Job auf (er hasste ihn ohnehin).
Zusammen mit Stuckenschmidt und dem späteren Komponisten und Dirigenten Victor Schlichter formierte Walter Holdt eine Jazzband, mit der sie im "Alkazar", einem Nachtclub in Hamburgs Rotlichtbezirk St. Pauli, auftraten. Holdt spielte Schlagzeug. Aber auch dieses Arbeitspensum war auf die Dauer nicht zu bewältigen, und er wurde krank.
Als Lavinia im Dezember 1922 schwanger wurde, unterstützte die beiden eine Zeitlang der Maler Emil Nolde, mit dem sie befreundet waren.
Letztlich aber half das nicht dauerhaft weiter. Der Pleitegeier kreiste unerbittlich über Lavinia und Walter, sie lebten in bitterer und ständig sich weiter verschärfender Armut.
1923 schließlich, nach der Geburt ihres Sohnes, freundeten sie sich anscheinend mit der Idee an, "volkstümlichere" Tanznummern zu entwickeln und damit gegen Gage in Varietés und auf Cabaretbühnen aufzutreten. Funktioniert hat es offenkundig nicht.
Auch an Modeentwürfen hat sich Lavinia versucht. Sie sind teilweise hochoriginell, realisiert wurde dennoch kein einziger.
Lavinia Schulz: Modeentwurf. Präsentationszeichnung, undatiert.
Aus einigen erhalten gebliebenen Zeichnungen und dem Miniaturmodell einer Bühne lässt sich schließen, dass die beiden wohl auch über die Gründung eines Marionettentheaters nachdachten - nicht nur aus kommerziellen Gründen, sondern es war ihnen mit Sicherheit auch klar, dass sie ihre Extremtänze schon aus rein körperlichen Gründen bestenfalls noch einige Jahre würden fortsetzen können.
Lavinia Schulz: Marionettenentwürfe, wohl nie realisiert
Des weiteren planten sie einen Tanzfilm; nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, Ausschnitte dieses Films als "Demo" an Veranstalter, Agenten und Varietébesitzer zu schicken. Einige von Lavinia hierfür gezeichnete Szenenskizzen sind erhalten geblieben:
Filmszenen-Entwürfe von Lavinia Schulz, 1923
Alle diese Pläne zerschlugen sich. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil es in der Beziehung der beiden aufgrund körperlicher Erschöpfung und der ständigen Ebbe in der Kasse zunehmend krachte. Und unglücklicherweise hatten die beiden völlig inkompatible Methoden, mit diesen Problemen umzugehen: Walter fiel zunehmend in eine Depression und war irgendwann kaum mehr zum Aufstehen zu bewegen, während sich Lavinia immer tiefer in immer sinnloserer Arbeit vergrub. Obendrein entwickelte sie anscheinend Anzeichen von Verfolgungswahn; ihrer Mutter jedenfalls erklärte sie, immer, wenn sie nicht zu Hause sei, breche jemand in die Wohnung ein, um ihre Entwürfe zu stehlen. Lavinias Eltern, die ernsthaft fürchteten, ihre Tochter werde verrückt, drängten auf eine Scheidung von Walter. Die Situation wurde untragbar. 1924 standen Lavinia und Walter akut vor dem Verhungern.
Die meisten damaligen Zeitungen schilderten das, was folgte, als "Doppelselbstmord aus Not". Für die Reporter mag es tatsächlich so ausgesehen haben - es war die hohe Zeit der Wirtschaftskrise und Hyperinflation; Verzweiflungstaten dieser Art dürften damals an der Tagesordnung gewesen sein. Tatsächlich aber sieht der Tathergang nicht nach einem geplanten Freitod des Paares aus: Am 18. Juli 1924 gegen 7 Uhr morgens tötete Lavinia mit zwei Kopfschüssen ihren (wohl noch schlafenden) Mann. Anschließend schrie sie durchs Treppenhaus, sie habe ihren Mann erschossen und werde nun auch sich selbst erschießen, kehrte in ihre Wohnung zurück und richtete die Waffe gegen sich selbst.
Die von Nachbarn herbeigerufene Polizei fand Walter tot in seiner Hängematte, Lavinia lag auf dem Boden davor. Den einjährigen Sohn der beiden (Jürgen Hans-Heinz, letzterer Doppelname in Erinnerung an den Mitbewohner Stuckenschmidt) fand man unverletzt in seinem Kinderbett. Lavinia, die noch lebte, wurde ins Krankenhaus St. Georg gebracht, wo sie einen Tag später ihren Verletzungen erlag.
Die von Nachbarn herbeigerufene Polizei fand Walter tot in seiner Hängematte, Lavinia lag auf dem Boden davor. Den einjährigen Sohn der beiden (Jürgen Hans-Heinz, letzterer Doppelname in Erinnerung an den Mitbewohner Stuckenschmidt) fand man unverletzt in seinem Kinderbett. Lavinia, die noch lebte, wurde ins Krankenhaus St. Georg gebracht, wo sie einen Tag später ihren Verletzungen erlag.
Der Tod von Lavinia Schulz und Walter Holdt löste in Künstlerkreisen große Betroffenheit aus. Gleichwohl scheint niemand wirklich überrascht gewesen zu sein. Gerade ihre engen Freunde und näheren Bekannten wie etwa Hans Heinz Stuckenschmidt hatten immer vorausgesehen, dass dies eine Geschichte ohne Happy End werden würde. Lothar Schreyer: "Noch heute fühlen wir, die wir alles aus der Ferne und zugleich aus ungreifbarer Nähe miterlebt haben, uns von schwer lastender Schuld belastet."
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welche Zukunft den beiden angesichts des sich in den Mittzwanzigern bereits deutlich abzeichnenden Endes des Expressionismus' und des steigenden Einflusses der Neuen Sachlichkeit noch bevorgestanden hätte.
1925 veranstaltete das Museum für Kunst und Gewerbe einen Gedächtnisabend für Lavinia Schulz und Walter Holdt. Danach wanderten die Masken, Fotos und Zeichnungen in einige "Artistengepäck"-Kisten und wurden auf dem Dachboden des Museums vergessen. Sie wurden nicht einmal inventarisiert. Genau dies erwies sich später als Glücksfall, denn dadurch entgingen die Objekte den Nazis, die diese Werke wohl als "entartete Kunst" angesehen und womöglich vernichtet hätten.
Die Kisten auf dem Dachboden
Jürgen Hans Heinz, der Sohn der beiden, wuchs bei Verwandten seines Vaters in Schweden und England auf.
Erst 1988 wurde das Werk Lavinia Schulz' und Walter Holdts wiederentdeckt und sorgfältig restauriert. Heute gehören diese Werke zu den bemerkenswertesten Schätzen, die das Museum besitzt. Der Sohn hat die Ausstellung einmal besucht und wurde bei dieser Gelegenheit von dem Kurator interviewt, aber natürlich hatte er keine Erinnerungen an seine Eltern.
Erst 1988 wurde das Werk Lavinia Schulz' und Walter Holdts wiederentdeckt und sorgfältig restauriert. Heute gehören diese Werke zu den bemerkenswertesten Schätzen, die das Museum besitzt. Der Sohn hat die Ausstellung einmal besucht und wurde bei dieser Gelegenheit von dem Kurator interviewt, aber natürlich hatte er keine Erinnerungen an seine Eltern.
Das Ensemble
Teile des Werkes von Lavinia Schulz und Walter Holdt waren von Oktober 2010 bis Februar 2011 in der Mathildenhöhe Darmstadt in der Ausstellung "Gesamtkunstwerk Expressionismus - Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905-1925" zu sehen. Auch in der Ausstellung "Danser sa vie" ("Dance Your Life") vom November 2011 bis April 2012 im Centre Pompidou, Paris, war dem Werk des Künstlerpaares ein eigener Raum gewidmet. Seit der Neueröffnung der Abteilung "Moderne" im Februar 2012 sind alle Exponate wieder zurück im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. 2022 waren einige der Kostüme auf der Biennale in Venedig zu sehen.
Literatur
- Ralf Beil, Claudia Dillmann (Hg.): The Total Artwork in Expressionism - Art, Film, Literature, Theater, Dance, and Architecture, 1905-25. Ostfildern 2011.
- Kirsten Beuster: Gegen den Strom … - Die expressionistischen Masken-Tänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt. In: Lichtwark-Heft Nr. 72. Hamburg-Bergedorf 2007.
- Athina Chadzis: Die expressionistischen Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt. Frankfurt/M. 1998.
- Dianne S. Howe: Individuality and Expression - The Aesthetics of the New German Dance, 1908-1936. New York 1996.
- Nils Jockel, Patricia Stöckemann: Flugkraft in goldene Ferne... - Bühnentanz in Hamburg seit 1900. Hamburg 1989.
- Rüdiger Joppien u.a. (Hg.): Entfesselt - Expressionismus in Hamburg um 1920. Katalog, Museum für Kunst und Gewerbe. Hamburg 2006.
- Stanislaw Rowinski: Lavinia Schulz und ihre künstlerischen Inspirationsquellen. In: Joppien u.a., S. 51-55.
- Lothar Schreyer: Expressionistisches Theater - Aus meinen Erinnerungen. Hamburg 1948.
- Hans Heinz Stuckenschmidt: Zum Hören geboren - Ein Leben mit der Musik unserer Zeit. München/Kassel 1982.
- Karl Toepfer: Empire of Ecstasy - Nudity and Movement in German Body Culture, 1910-1935. London 1997.
- Vossische Zeitung, 16. 10. 1918: Theaterstürmchen.
Ein Radiofeature von mir über die Maskentänzer wurde gesendet im Deutschlandfunk am 18. November 2016, wiederholt am 3. August 2018. Der Podcast steht hier online.
Seit Mai 2014 ist die Geschichte der Maskentänzer auch als Roman zu haben: "Kellertänzer" von Nils Jockel, eine Besprechung finden Sie hier.
Wer an einem Drehbuch interessiert ist, setze sich bitte mit mir in Verbindung.
Frank Böhme
Jürgen Döring
Nils Jockel
Jens Oestreicher
Stanislaw Rowinski
Dieser Blogpost wurde im Mai 2024 ergänzt und aktualisiert. Fotos von JR, soweit nicht anders gekennzeichnet.
Dank an:Frank Böhme
Jürgen Döring
Nils Jockel
Jens Oestreicher
Stanislaw Rowinski
"In Darmstadt läuft noch bis Februar 2011 eine Ausstellung mit dem Titel "Gesamtkunstwerk Expressionismus - Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905-1925", wo die Exponate derzeit zu sehen sind." - Das stimmt so nicht. Die Masken sind seit Zeiten und immer noch im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen. 4.März 2012
ReplyDeleteDas "derzeit" bezog sich natürlich auf den Zeitpunkt, da ich den Beitrag geschrieben hatte. Ich habe den Absatz jetzt aktualisiert. Danke für den Hinweis!
DeleteDarf ich Ihren tollen Artikel auf meinem Blog verlinken? Theaterliebe heißt der Blog.
ReplyDeleteMit freundlichem Gruß, Johanna Schall
Aber gern!
DeleteSehr interessanter Text. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was aus dem Sohn wurde, dank Ihnen weiß ich es nun.
ReplyDeleteDie Ganzkörpermasken sind derzeit in der Ausstellung "Sturmfrauen" in der Schirn in Frankfurt am Main zu sehen (bis zum 7. Februar 2016).
Vielen Dank für diesen faszinierenden Artikel. Beim lesen dachte ich mir, das Schicksal der beiden ist wie für einen Film gemacht ... dann sah ich, daß bereits ein Drehbuch existiert.
ReplyDeleteich kann die Ausstellung Sturmfrauen in der Schirn nur empfehlen, die Kostüme sind hervorragend ausgestellt mit phantastischem Licht...
ReplyDeleteVielen Dank für diesen tollen informativen Artikel! Er macht Lust darauf, sich diese Ganzkörpermasken in der Ausstellung "Sturmfrauen" in Frankfurt anzuschauen. Sehr faszinierend!
ReplyDeleteAnne Sunder
Vielen Dank für diesen ausführlichen und informativen Bericht!
ReplyDeleteGuten Abend!
ReplyDeleteIch schreibe zur Zeit eine Hausarbeit über Lavinia Schulz. Ich würde gerne über die Fernleihe meiner Universität den Aufsatz von Frau Kirsten Beuster lesen. Haben Sie vielleicht noch die genauen Seitenangaben des Aufsatzes? Leider kann ich ohne diese leider nicht bestellen.
Bedanke mich trotzdem schon mal!
Beste Grüße, Iliana
Tut mir leid, das weiß ich nicht mehr. Ich hatte das Heft auch nur leihweise.
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