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Friday, October 30, 2015

Nosferatu & Live Music



NOSFERATU -- A SYMPHONY OF HORROR
Germany 1922, directed by F.W. Murnau


Live score composed and performed by George Sabol

Pittsburgh, Carnegie Lecture Hall, October 29, 2015



(Scroll down for English version)

Halloween steht vor der Tür. Ein passender Anlass, wieder einmal Murnaus wunderbaren NOSFERATU -- EINE SYMPHONIE DES GRAUENS auszugraben. Noch immer ist dies einer der besten je gedrehten Filme überhaupt, und Vorbild für so ziemlich alle späteren Horrorfilme sowieso.

Allerdings nicht, wie gestern abend im Carnegie Museum of Art zu sehen und zu hören, mit Heavy-Metal-Begleitung. Der Pittsburgher Gitarrist George Sabol ist nicht der Erste, der sich an dieser Kombination versucht, auch die New Yorker Doomrocker Type O Negative sind damit schon abgeschmiert.

Grundsätzlich finde ich es immer begrüßenswert, künstlerisch wertvolle Stummfilme auch dadurch lebendig zu halten, dass man sie mit Livemusik begleitet, und Sabol hat das handwerklich durchaus gut hinbekommen. Er spielte zum Halbplayback live verschiedene Gitarren. Nur leider hat er sich für seine Heavy-Metal-Musik einfach den falschen Film ausgesucht. NOSFERATU ist ein leiser, subtiler Film, der bewusst auf grelle Schockeffekte verzichtet. Heavy Metal ist das genaue Gegenteil dessen. Hier zogen sich die Gegensätze nicht an, sondern ergaben Wiener Schnitzel mit Vanillesauce.

Zudem verwendete Sabol, vemutlich aus lizenzrechtlichen Gründen, eine uralte, lieblos zusammengehauene und unrestaurierte US-Version des Films voller Kratzer und Sprünge. Damit kann man dem Film nicht gerecht werden. Die Zwischentitel waren grafisch miserabel gestaltet, ließen keine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Zwischentitelarten und den Inserts zu und waren einfach nur verwirrend, streckenweise auch allzu frei aus dem Deutschen übersetzt, etliche fehlten ganz. Der fehlenden Viragen wegen wird auch nicht immer klar, welche Szenen bei Nacht und welche bei Tag spielen. Im Originalfilm gibt es erklärende Zwischentitel, es gibt Dialogtitel und es gibt Inserts aus einer alten Chronik; letztere bildet den erzählerischen Rahmen der Geschichte. In der hier verwendeten Kopie war man sich anscheinend nicht einmal einig, ob der Meister nun eigentlich Nosferatu oder Dracula heißt (tatsächlich heißt er Graf Orlok, aber das wird gleich ganz unterschlagen); auch die Namen der Charaktere waren in die alte Stoker-Benennung zurückübersetzt worden, und es bleibt dadurch ein Rätsel, weshalb eigentlich die Leute in Bremen englische Namen tragen.

Solche veralteten Versionen sollten nicht mehr gezeigt werden, sie vermitteln ein falsches Bild des Films. Wenn also NOSFERATU, dann doch bitte eine sorgfältig rekonstruierte und restaurierte Version wie etwa jene des Filmmuseums München (zu beziehen via Transit-Film). Die hat die neueingespielte originale Orchestermusik von Hans Erdmann, die zu dem Film passt, und sie hat die Viragen, die der Film im Original mit großer Wahrscheinlichkeit hatte. (In den USA und England ist eine adäquate Fassung bei EUREKA erschienen. Sie hat die englischen, korrekt übersetzten und grafisch dem deutschen Original nachgebildeten Zwischentitel.)






Halloween is on the way. A good reason to rediscover Murnau's wonderful NOSFERATU -- A SYMPHONY OF HORROR. It's simply still one of the best movies ever made, and role model for many later horror movies anyways.

But not with Heavy Metal acompaniment, as seen and heard yesterday at the Carnegie Museum of Art. Pittsburgh guitarist George Sabol is not the first one who tried this combination, also the New York doom rockers Type O Negative failed with it already.

In general I think it's always a good thing to keep silents of high artistic value alive by live music accompaniment, and Sabol did it quite well. He played several guitars live to a pre-recorded score. The problem is: For his Heavy Metal music he simply used the wrong film. NOSFERATU is a quiet, subtle film that intentionally abstains from harsh shock effects. And that's exactly the opposite of Heavy Metal. So here the opposites didn't attract, the result was Viennese schnitzel with vanilla sauce.

Besides this, Sabol -- probably due to copyright reasons -- used an age-old, knocked-up and unrestored US version of the movie with scratches and cracks. This doesn't do any justice to the film anymore. The intertitles were graphically miserable, you couldn't recognize the different kinds of intertitles and inserts, and so they were confusing, several of them were translated all too freely from German or missing completely. Because of the missing tintings it's not even clear sometimes which scenes are set at night and which ones at daytime. In the original movie there are explaining intertitles, there are dialogue intertitles, and there are inserts from an old chronicle that establishes the whole frame of the story. In this copy it was not even clear whether the name of The Master is Nosferatu or Dracula (in fact, he's Count Orlok, but that's not even mentioned); also the names of the other characters were translated back into the old Stoker version, and so nobody knows why the people in Bremen have English names.

Dated versions like this one shouldn't be shown anymore; they convey a wrong image of the film. If NOSFERATU, then please a carefully resconstructed and restored version like the one made by Filmmuseum Munich (available via Transit Film, in the U.S. and England via Eureka). It has the newly recorded original orchestral score by Hans Erdmann that matches with the movie, and it has the tintings the film in all probability had in its premiere version, with the correctly translated intertitles which reproduce the original German design. 



Sunday, February 5, 2012

Von morgens bis mitternachts (Deutschland 1920)




(English text HERE!)


1920, kurz nach der Uraufführung von Das Cabinet des Dr. Caligari, begannen die Dreharbeiten zu Von morgens bis mitternachts. Während allerdings Caligari ein bahnbrechender Film der expressionistischen Ära in Deutschland wurde, fiel Mitternacht über die Tischkante. Soweit wir heute wissen, fand sich kein Verleiher, und so war der Film in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht zu sehen. Nur eine Pressevorführung im Juni 1922 in den Regina-Lichtspielen in München ist überliefert. Die öffentliche Uraufführung fand am 3. Dezember 1922 im Hongo-za-Kino in Tokio statt, danach ging der Film verloren. Die Kopie wurde erst 1962 wiedergefunden und ging ans Nationale Filmarchiv der DDR. Seine deutsche öffentliche Premiere erlebte Von morgens bis mitternachts dadurch erst 1963 in Ost-Berlin.

Eine Parallele zwischen Caligari und Mitternacht ist sofort offensichtlich: Beide Filme arbeiten mit gemalten Kulissen.


Während dies im Fall Caligari sehr sinnvoll ist, lässt sich das von Mitternacht nicht sagen, und es ist interessant, warum das so ist.

Caligari handelt von psychiatrischen Themen; die ganze Story ist eine Art Halluzination eines Wahnsinnigen, und deshalb ist die gesamte Szenerie irreal. Die einzigen "realen" Szenen sind jene, die die Patienten im Garten und im Foyer der Anstalt zeigen - wodurch klar wird, dass dies deren reale Situation ist.

Nicht so in Mitternacht. Der Film erzählt eine sehr simple Geschichte: Ein Bankkassierer (gespielt von Ernst Deutsch, noch heute eine Bühnenlegende in Deutschland) kann der Versuchung nicht widerstehen. Er klaut das Geld aus seiner Kasse, verlässt seine Familie und versucht, das "wilde Leben" zu leben - oder jedenfalls das, was er sich darunter vorstellt. Der Film folgt diesem Versuch "von morgens bis mitternachts" durch eine Reihe von Stationen: einem Luxushotel, einem hochklassigen Herrenausstatter, einer Bar, einer Sportarena, einer Spielhölle. Klar, dass sich diese Reise alsbald in eine Flucht verwandelt.

In jeder dieser Stationen ist eine Uhr zu sehen, und jede Szene endet mit einem symbolischen Bild: Eine scheinbar verführerische Frau verwandelt sich sekundenlang in den Tod und veranlasst den Kassierer, in Panik und Entsetzen die Flucht zu ergreifen.


In der letzten Station schließlich rettet eine Soldatin der Heilsarmee den Kassierer aus einer Spielhölle und bringt ihn in ihr Gemeindehaus.


Sie überzeugt ihn davon, seine Sünden zu bekennen. Vor etlichen anderen armen Sündern tut er dies schließlich und wirft diesen am Ende das noch verbliebene gestohlene Geld vor die Füße. Die Armen raffen die Scheine an sich und rennen davon, nur die Heilsarmeesoldatin bleibt bei ihm. Als sie jedoch herausfindet, dass auf den Kassierer 5000 Mark Belohnung ausgesetzt sind, läuft sie nach draußen, um den nächstbesten Polizisten zu alarmieren.

Als die Polizei erscheint, um ihn zu verhaften, erschießt sich der Kassierer vor einem Kreuz, um sodann auf eine eigenartig verdrehte Weise die Haltung des gekreuzigten Christus anzunehmen; über ihm erscheinen die Worte "ecce homo" - "siehe, der Mensch", Pontius Pilatus' Worte.


Der Film basiert auf einem Theaterstück von Georg Kaiser von 1912, das Drehbuch schrieb Herbert Juttke, das Szenenbild entwarf Carl Hoffmann. Der Regisseur Karlheinz Martin verfilmte das Stück ohne große Veränderungen. Tatsächlich ist der Film auf einer Theaterbühne gedreht, und das sieht man vom Anfang bis zum Ende - die Schauspieler spielen direkt in die Kamera, "zum Publikum", so wie sie es von der Bühne her kennen. Es gibt nur wenige Augenblicke, die zeigen, dass der Regisseur sich klargemacht hat, dass er hier mit einem anderen Medium zu tun hatte:

Wenn der Kassierer ein Sechstage-Radrennen besucht und den Rennfahrern eine enorme Geldsumme in Aussicht stellt, um sie zu schnellerem Fahren anzutreiben, dann wird ihre zunehmende Geschwindigkeit durch ein verzerrtes Bild symbolisiert.


Eine andere schöne Idee ist zu sehen, wenn die Nachricht von seiner Flucht telegrafiert wird: Die Buchstaben sind entlang der Telegrafendrähte aufgereiht und fliegen davon.



Und hier wird eine reale Szene in ein Gemälde verwandelt:



Dies sind hervorragend gemachte Momente, die tatsächlich etwas vom wahren Geist des Expressionismus einfangen. Während Caligari diesen Geist konsequent durchhält, sind filmspezifische Ideen dieser Art in Mitternacht die Ausnahme. Alles in allem deshalb sicherlich ein interessanter Film für alle, die sich für Filmgeschichte interessieren, aber kein "großer" Film, den man unbedingt gesehen haben müsste.

Vor kurzem wurde dieser Film in einem Pittsburgher Kino mit Live-Musikbegleitung von einem Kammerorchester gezeigt. Die Vorstellung war ausverkauft. Das ist erfreulich, weil es zeigt, dass ein Interesse an Stummfilmen und Filmgeschichte tatsächlich existiert. 

Von morgens bis mitternachts gibt es auf DVD, gut restauriert vom Filmmuseum München (Enno Patalas, Gerhard Ullmann und Klaus Volkmer). Sie enthält die originalen deutschen Zwischentitel, dazu wahlweise Untertitel in englischer, französischer und spanischer Sprache. Dazu gibt es ein informatives Booklet in drei Sprachen, außerdem hat die DVD keinen Regionalcode, sie sollte deshalb überall abspielbar sein.

Die originale Filmmusik ist verloren (falls es überhaupt je eine gab), aber die DVD bietet sogar zwei neue Musiken zur Auswahl. Der eine Soundtrack ist komponiert von Yati Durant und wird von einem Kammerorchester gespielt, der andere ist eine improvisierte Musik von Christian Roderburg und dem SchlagEnsemble H/F/M, live aufgenommen auf dem Internationalen Stummfilmfestival Bonn 2008 (und es ist auch der bessere Soundtrack).


Sunday, October 3, 2010

Roaring Rails (1924)

(Deutscher Text im Anschluss)

This silent movie was shown on October 1 at the Andy Warhol Museum. It was made in 1924, written by Doris Dorn and Hunt Stromberg, directed by Tom Forman, starring Harry Carey (a discovery of D.W. Griffith), Frankie Darro (he was 7 when this movie was shot, and it was already his second appearance on a screen), Edith Roberts, Wallace MacDonald and Frank Hagney.

It's one of the many movies that were cheaply made, shown then for one season with more or less success, and after that these films fell into oblivion. Most of them are lost forever; nobody cared for the movies. The copies were destroyed, they weren't seen as worth keeping, and at latest when the production companies needed storage room, even the original negatives were cleaned out.

Roaring Rails obviously survived in only one - not very well preserved - copy at the archives of the George Eastman House and has now been reconstructed and restored. The film is incomplete; one lost scene can only be described by intertitles. All in all, the reconstruction of the movie turned out well. Scratches and spots have been removed electronically; additionally, the film got virages now, following the usual standards - blue for "night", sepia for "artificial or candle light", red for the fire scenes. I'm not convinced that the original movie really had these colors, but anyway, it looks good and works well. Only the picture format seemed to be wrong; the left image border was cut off. But that may be a problem with the room at the Warhol Museum, not with the movie.

Nothing is known about a music for this movie. Probably - as most silents of the era - there was no special score written for it; every cinema pianist had to compile the music himself from music archives, or he had to follow his own feelings and knowledges. For an experienced pianist it was possible to improvise a soundtrack for most movies because usually they consisted simply from the ever-same standard situations.

Is it worth the effort then to reconstruct movies like this? As far as I'm concerned: yes. Why? Because movies like Roaring Rails give us an impression what cinema was about in the 1910s and 1920s, they deliver a lot of background information about the time and the society they were shown in. Movies like Roaring Rails were not "art", they were mainly a simple amusement for everyday people. Many of the moviegoers in the U.S. at that time were immigrants; workers who often didn't speak the language very well. Besides this they didn't have much money. The entrance fee was cheap, and the movies didn't need much language.

Seen from the producer's view this meant: American movies, in order to find their audience, had to be understandable and entertaining for people of all countries, origines, cultures, traditions, horizons and languages. Directors and screenwriters had to develop ways of storytelling as well as visual languages that could reach all of these people.

And they succeeded in this. This early filmmaking experience became the reason why Hollywood movies could be shown all over the world - they were understandable in nearly every country, and so they were successfull world-wide down to the present day.

Roaring Rails shows exactly how that works: The story is based on archaic emotions, there are no complicated relationships, it's good or bad, wrong or right, love or hate. The story is set in an ambience that has always been attractive for movies and is familiar to all audiences in the world: the railroad. The hero, on the one hand, is a bit naive, a guy like you and me, but it is clear from the first moment that he is the hero. There's the beautiful good-hearted young woman, and from the first moment of her appearence you know that finally she and the hero will be a couple. The villain is the villain; no explanations or reasons are given, he simply is, it takes only a few seconds until you hate him, and that's enough to make it work. And there's this little orphan boy who happens to get caught in the crossfire between hero, villain and two competing railroad companies. Archaic as it may be, it's all that's needed to make a touching movie that works still today.

In a certain way Roaring Rails in all its simplicity already must be seen as a sort of "latecomer" in 1924. At this time, directors like Lang, Lubitsch, Gance or Griffith had long proven that this new medium offered much more possibilities then this kind of lowbrow entertainment. But these kind of movies still existed, and they found their audience. That's why they are interesting still today.

The Warhol Museum provided a new music score for this movie, written by local composer Michael Kim and performed live by a four-piece ensemble (cello, violin, keyboard, several percussion instruments; the latter played by the composer himself). As enjoyable as this was, the music turned out to be rather monotone and repetitive after a while and had no real connection to the movie. Or let's put it this way: It showed that writing a good film score is not as easy as one may think.

And, dear Warhol team, if you take the trouble to present a treasure like this, be consequent and do it a bit more stylish. When introducing words have to be spoken (and that's a good and neccessary thing here), don't murmur them from the aisle into the rows, use the stage. If you work with live musicians, then it's not a good idea to let them introduce themselves after they took their seats already. It's the speaker's job to introduce them, then they should enter the stage and take their seats. And please, dear musicians: When the movie is over, you can stop playing. - But finally this is peanuts. Go on with evenings like this, please. It's worth it.


Dieser Stummfilm lief am 1. Oktober im Andy Warhol Museum. Er stammt aus dem Jahr 1924, wurde geschrieben von Doris Dorn und Hunt Stromberg, Regie Tom Forman; es spielen  Harry Carey (eine Entdeckung von D.W. Griffith), Frankie Darro (zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war er gerade mal 7, trotzdem war dies bereits sein zweiter Auftritt auf einer Leinwand), Edith Roberts, Wallace MacDonald und Frank Hagney.

Es ist dies einer der vielen Filme, die billig hergestellt wurden, dann eine Saison lang mit mehr oder weniger Erfolg liefen und dann in Vergessenheit gerieten. Die meisten Filme dieser Art sind für immer verloren; niemand kümmerte sich um sie, die Kopien wurden nicht als erhaltungswürdig angesehen, also wurden sie weggeworfen, und spätestens, wenn die Produktionsfirma Lagerraum für neue Filme brauchte, wurden auch die Originalnegative vernichtet.

Roaring Rails überlebte in einer einzigen (noch dazu schlecht erhaltenen) Kopie in den Archiven des George Eastman House. Sie wurde nun rekonstruiert und restauriert. Der Film ist unvollständig, eine nicht erhalten gebliebene Szene kann nur noch per Zwischentitel beschrieben werden. Alles in allem ist die Rekonstruktion des Films aber gut gelungen. Kratzer und Flecken wurden elektronisch entfernt, zudem hat man den Film mit Viragen versehen, die dem üblichen Standard folgen - blau für "Nacht außen", sepia für "Kunst- oder Kerzenlicht", rot für die Feuerszenen. Ich bin nicht überzeugt davon, dass dieser Film solche Einfärbungen damals wirklich hatte, aber wie auch immer, die Viragen sehen gut aus und erfüllen ihren Zweck. Probleme bereitete im Warhol-Museum lediglich das Bildformat; der linke Bildrand war angeschnitten, doch mag das ein Problem des Raumes und nicht des Filmes gewesen sein.

Über eine Musik für diesen Film ist leider gar nichts bekannt. Wahrscheinlich - wie meistens bei Filmen dieser Ära - gab es gar keine eigens für ihn komponierte Musik, und so hatte jeder Kinopianist selbst eine Musik zusammenzustellen; sei es aus entsprechenden Musikarchiven, oder er folgte seinem eigenen Gefühl. Für einen versierten Kinopianisten dürfte es nicht mal ein großes Problem gewesen sein, Filme wie diesen mit mehr oder weniger improvisierter Musik zu begleiten, denn die Filme bestanden im wesentlichen immer wieder aus den gleichen Standardsituationen und -szenen.

Sind Filme wie dieser den Aufwand, den Rekonstruktion und Restaurierung bedeuten, heute wirklich noch wert? Ich für meinen Teil denke: ja. Warum? Weil Filme wie Roaring Rails uns einen Eindruck davon vermitteln, was Kino in den zehner und zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war, und weil sie uns eine Menge Hintergrundinformationen über die Zeit und die Gesellschaft liefern, in der sie gezeigt wurden. Filme wie Roaring Rails waren ja nicht "Kunst", sie waren in erster Linie einfach Unterhaltung für alle. Viele der damaligen Kinogänger in den USA waren Einwanderer; Arbeiter, die oftmals die Sprache noch nicht richtig beherrschten. Außerdem hatten sie wenig Geld. Der Eintritt war billig, und die Filme kamen ohne viel Sprache aus.

Aus der Sicht der Filmproduzenten hieß das: Amerikanische Filme, wenn sie ihr Publikum finden sollten, mussten für Zuschauer jeder geografischen und sozialen Herkunft, jeder vorstellbaren Kultur, Tradition und Sprache verständlich und unterhaltsam sein. Regisseure und Drehbuchautoren mussten Wege finden, Geschichten zu erzählen und sie visuell umzusetzen, die alle diese Leute verstehen konnten.

Das ist ihnen gelungen. Diese ursprüngliche Erfahrung ist der Grund dafür, dass Hollywoodfilme überall auf der Welt funktioniert haben - sie wurden so gut wie überall verstanden, und deswegen sind sie erfolgreich bis auf den heutigen Tag.

Roaring Rails zeigt genau, wie das geht: Die Story basiert auf einfachen Emotionen, es gibt keine komplizierten Beziehungsgeschichten, es gibt Gut und Schlecht, Falsch und Richtig, Liebe und Hass. Die Geschichte spielt im Umfeld des Eisenbahnbaues; ein Umfeld, das optisch immer schon attraktiv für den Film war und das jedem Zuschauer vertraut ist. Der Held ist einerseits ein bisschen naiv, ein Typ wie du und ich, aber vom ersten Moment an ist klar, dass er der Held ist. Es gibt die schöne junge Frau mit dem großen Herzen, und schon im ersten Moment ihres Erscheinens auf der Leinwand weiß man: Die beiden werden ein Paar. Der Bösewicht ist der Bösewicht; es gibt keine Erklärung oder Begründung, weshalb er das ist, er ist es einfach, bereits nach ein paar Sekunden hasst man ihn. Mehr braucht die Figur nicht, um für den Film zu funktionieren. Und schlussendlich ist da der arme kleine Waisenjunge, der aus Versehen zwischen die Fronten des Helden, des Bösewichtes und zweier konkurrierender Eisenbahngesellschaften gerät. So archaisch das sein mag, diese Zutaten reichen aus, um einen noch heute anrührenden Film zu machen.

In gewisser Weise allerdings dürfte Roaring Rails in seiner Schlichtheit auch 1924 schon eine Art "Nachzügler" gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt hatten Regisseure wie Lang, Lubitsch, Gance oder Griffith längst unter Beweis gestellt, dass mit dem Medium Film viel mehr möglich war als diese Art einfacher Unterhaltung. Aber es gab sie noch, und sie fanden ihre Zuschauer. Deshalb sind sie auch heute noch interessant.

Das Warhol-Museum spendierte dem Film eine neue Musik, geschrieben von dem ortsansässigen Komponisten Michael Kim. Sie wurde live aufgeführt von einem vierköpfigen Ensemble (Cello, Violine, Keyboard, diverse Perkussionsinstrumente; letztere vom Komponisten selbst gespielt). So erfreulich dies auch ist, es muss doch gesagt werden, dass die Musik nach kurzer Zeit monoton und repetitiv zu werden begann und kaum mal einen wirklichen Bezug zum Film hatte. Oder, anders gesagt: Sie zeigte, dass eine gute Filmmusik schwerer zu schreiben ist als man vielleicht denken mag.

Und liebes Warhol-Team, wenn ihr euch schon die Mühe macht, ein solches Schätzchen zu präsentieren, dann seid doch bitte so konsequent, es mit ein bisschen mehr Stil zu tun. Wenn einige Einführungsworte gesagt werden sollen (was gut und richtig ist), dann werden die bitte von der Bühne aus gesprochen und nicht irgendwo aus dem Seitengang in den Saal gemurmelt. Wenn man mit Live-Musikern arbeitet, dann sollten die sich nicht selbst vorstellen müssen, nachdem sie schon auf der Bühne sitzen, sondern auch das ist Aufgabe des Ansagers. Erst danach sollten die Musiker die Bühne betreten und ihre Plätze einnehmen. Ach ja, und liebe Musiker, wenn der Film zu Ende ist, hört bitte auf zu spielen. - Aber das sind Kleinigkeiten. Bitte macht weitere Abende wie diesen - es ist den Aufwand wert.

Thursday, September 23, 2010

The Loves Of Queen Elizabeth (1912)


(Deutsche Version im Anschluss)

Silent movies with live-accompaniment are still a rare event in the U.S.

Last Saturday there was such a performance: Presented by the Renaissance and Baroque Society of Pittsburgh (RBSP), the film The Loves Of Queen Elizabeth (Les Amours de la reine Élisabeth, England/France 1912) was shown; directed by Louis Mercanton und Henri Desfontaines, starring the legendary Sarah Bernhardt and Lou Tellegen, accompanied live by the Newberry Consort, an ensemble specializing in Early Music, conducted by David Douglass.

Douglass did exactly what film musicians usually already did at the times of silents: He picked up and arranged music that already existed - in this case music by composers Holborne, Dowland, Scheidt, Byrd and others, as it was played at the court of Elizabeth, added by some transitions Douglass composed himself.

It has always been the exception that movies had music composed especially for this reason, usually this was done only for very prestigious film projects. A five-piece ensemble like this one would have been rather luxury at that time, the "little cinema 'round the corner" had to get along with a piano player.

Shown at a projection speed of 16 pictures/second, this movie should have a running time of circa 60 minutes. The reconstruction shown tonite had a running time of 45 minutes (from DVD), which meant that the actors moved a little bit too fast - not really helpful. For this performance, the movie was reconstructed by Phillip Serna who played in the Consort himself.

The rororo-Filmlexikon writes about this movie: "Sarah Bernhardt's most famous movie gives only a pale idea about her real acting talents. The aging diva's way of acting is strongly overblown, and the movie, following the concept of film d'art, tries in no way to translate the traditions of stage into the movie. Its huge success is based on the fact that for the first time a world-famous phenomenon is presented to a wide audience" (1). In addition, producer Adolph Zukor played some well-tried tricks; one of them was to show this movie only in selected theaters (which means artificial shortage of supply), another one was to suggest in the advertisements that Bernhardt would appear in person.

What may be a good way to look at such an old silent movie today? It goes without saying that the way of storytelling in 1912 was very different from what we are used to nowadays. Usually the actors came from theater, they had the tendency to forge their acting ahead to "the audience" (this means in this case: directly into the camera). Also the static, immovable camera did its bit, as well as the "blown-up" gestures of the actors - probably a leftover from stage that looks sometimes a bit strange. When Sarah Bernhardt at the end of her death scene, after lengthy gesticulation finally steps forward and simply lets herself fall down onto a stack of pillows, one can't help laughing even if the scene is not in the slightest meant to be funny.

Especially interesting were the intertitles which I never saw done this way. Usually, intertitles were put directly into the scenes and contained short dialogues or explanations. This movie, instead, was organized in chapters, and every chapter started with an elaborate explanation text. The audience, so to speak, first received detailed information what to expect in the upcoming chapter, and then exactly this was shown by the actors. My guess about this: Probably the original movie in its premiere version didn't have any intertitles at all. Instead of the titles, a film explanator recited these texts - usually they were trained men, standing with a pointer next to the screen, explaining persons and sets to the audience; if needed, they were also able to answer questions from the audience. This friendly custom died out around 1915.

During the chapter intertitles (and accordingly during the explanator spoke) there was no music. This way the accompanying musicians were able to synchronize themselves with every new chapter. In case of continuous movies this can be a problem, especially when it's a big orchestra. The musicians sometimes had to improvise during the ongoing performance, so they had to be very skilful. In fact the cinema musicians got a higher salary than their colleagues at the symphony.

Only one thing in this evening's performance was a pity: Apparently to parts of the audience (which consisted mostly from students) the formula "silent = slapstick = funny" seemed to be burned into their brains. And so every look and every gesture of the actors was a reason to chuckle about, even at moments when the film was anything but funny - really distracting. If these students - and the Film Studies Department of the University of Pittsburgh was co-organizer of this evening - are going to be tomorrow's film experts, then the department still has to do some work on the reception of historic movies.

(1): Rowohlt Verlag, Reinbek near Hamburg 1978, p. 546, translation: jr


Stummfilme mit Live-Musikbegleitung sind in den USA noch immer ein eher seltenes Ereignis.

Am letzten Sonnabend gab es eine solche Aufführung: Zu sehen war in einer Präsentation der Renaissance and Baroque Society of Pittsburgh (RBSP) der Film The Loves Of Queen Elizabeth (Les Amours de la reine Élisabeth), England/Frankreich 1912, Regie: Louis Mercanton und Henri Desfontaines, mit der legendären Sarah Bernhardt und Lou Tellegen in den Hauptrollen. Live zum Bild spielte das Newberry Consort, ein auf Alte Musik spezialisiertes Ensemble unter der Leitung von David Douglass.

Douglass tat genau das, was die Kinomusiker meist auch schon zu Stummfilmzeiten taten: Er griff bereits bestehende Musiken auf und arrangierte sie neu; in diesem Fall Musik des elisabethanischen Hofes: Holborne, Dowland, Scheidt, Byrd und einige andere, ergänzt um einige von ihm selbst komponierte Überleitungen.

Dass Filme eine eigens für sie komponierte Originalmusik hatten, war immer die Ausnahme und kam nur bei Prestigeproduktionen vor. Auch ein fünfköpfiges Ensemble wie hier wäre damals schon ziemlich luxuriös gewesen, das "Kino um die Ecke" musste meist mit einem einzigen Pianisten auskommen.

Der Film soll bei einer Projektion mit 16 Bildern/Sekunde etwa 60 Minuten laufen. Die an diesem Abend gezeigte Rekonstruktion lief 45 Minuten (ab DVD) und war dadurch geringfügig zu schnell, was den Bewegungsabläufen der Darsteller nicht unbedingt guttat. Der Film wurde für diese Vorführung rekonstruiert von Phillip Serna, der auch selbst im Consort mitspielte.

Das rororo-Filmlexikon schreibt über den Film: "Sarah Bernhardts berühmtester Film vermittelt nur eine blasse Ahnung von ihrem wirklichen schauspielerischen Vermögen. Der Darstellungsstil der alternden Diva ist stark überzogen, und der nach dem Konzept des film d'art realisierte Film macht keinerlei Anstalten, Bühnentraditionen in den Film zu übersetzen. Sein großer Erfolg beruhte auf der Tatsache, dass er erstmals ein weltberühmtes Phänomen einem breiten Publikum vorstellte" (1). Dazu plazierte der Produzent Adolph Zukor noch ein paar altbewährte Verkaufstricks, unter anderem, dass der Film nur in ausgewählten Kinos gezeigt wurde (künstliche Verknappung des Angebotes), zudem wurde in der Werbung der Eindruck erweckt, die Bernhardt werde persönlich anwesend sein.

Wie sollte man sich einen so alten Stummfilm heute ansehen? Dass die Filmsprache eines Werkes von 1912 anders aussieht als wir das heute gewohnt sind, ist selbstverständlich. Die Schauspieler kamen zumeist vom Theater und hatten die Tendenz, nach vorn "zum Publikum" (das heißt in diesem Fall: direkt in die Kamera) zu spielen. Die damals noch auf einem Stativ festgeschraubte bewegungslose Kamera tat ein Übriges. Auch der von der Bühne herstammende Hang der Darsteller zur "großen Geste" ist unübersehbar und wirkt heute leicht befremdlich. Wenn sich Sarah Bernhardt am Ende ihrer Todesszene nach längerem Gestikulieren schlicht nach vorn auf einen Stapel Kissen fallen lässt, kann man sich das Lachen nicht verbeißen, auch wenn die Szene nicht im geringsten komisch gemeint war.

Interessant waren insbesondere die Zwischentitel, die ich in dieser Form noch nie gesehen hatte. Während normalerweise die Zwischentitel in den Szenenablauf eingeschaltet waren und kurze Dialoge oder Erklärungen zeigten, hatte man hier den Film in Kapitel unterteilt und an den Anfang eines jeden Kapitels einen längeren Erklärtext gestellt. Die Zuschauer wurden sozusagen zunächst darüber informiert, was im nächsten Kapitel passieren würde, und genau dies wurde dann im Anschluss durchgespielt. Meine Vermutung: Der Originalfilm in seiner Uraufführungsfassung hatte wahrscheinlich gar keine Zwischentitel, sondern die Informationen wurden von einem Filmerklärer vorgetragen. Das waren zumeist geschulte Männer, die mit einem Zeigestock neben der Leinwand standen, Personen und Sets erklärten und im Zweifelsfall auch Fragen der Zuschauer beantworten konnten. Diese freundliche Sitte starb um 1915 herum aus.

Während der Kapitelübersichten (bzw. damals der Ansagen des Erklärers) schwieg die Musik. Dadurch konnten sich die begleitenden Musiker mit jedem Kapitel neu auf die folgende Szene synchronisieren. Bei einem durchgehenden Film war das weitaus schwieriger, besonders dann, wenn ein größeres Orchester spielte. Das setzte äußerst fähige Musiker voraus, die in der Lage sein mussten, während der laufenden Aufführung zu improvisieren. Tatsächlich wurden Kinomusiker deshalb oft besser bezahlt als ihre Kollegen im Sinfonieorchester.

Schade lediglich an diesem Abend, dass bei Teilen des (zum großen Teil studentischen) Publikums anscheinend die Formel "Stummfilm = Slapstick = komisch" ins Hirn gebrannt zu sein scheint. Und so wurde höchst störend jeder Blick und jede Geste der Darsteller selbst da ausgiebig bekichert, wo der Film wirklich nicht komisch ist. Wenn aus diesen Studierenden - immerhin war das Film Studies Department der Universität Pittsburgh Mitveranstalter der Aufführung - einmal die Filmfachleute von morgen werden sollen, dann hat der Fachbereich noch einige Arbeit in Sachen Rezeption historischer Filme zu leisten.

(1): Rowohlt Verlag, Reinbek 1978, S. 546