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Saturday, May 18, 2024

Kellertänzer

Die Maskentänzer. Lavinia Schulz und Walter Holdt, ein expressionistisches Hamburger Künstlerpaar, das ab etwa 1920 den Ausdruckstanz neu definierte und sich im Sommer 1924 aus bitterster Not unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen selbst ins Jenseits beförderte.


Hinterlassen haben die beiden um die 14 Tanzkostüme, die zunächst mit allerlei anderen Hinterlassenschaften in zwei großen Transportkisten (für "dringlich zu beförderndes Artistengepäck") auf dem Dachboden des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe gelandet und dort jahrelang vergessen worden sind. Heute, nach ihrer zufälligen Wiederentdeckung in den 1980er Jahren, gehören sie zu den beeindruckendsten Schätzen des Museums. Die Originale sind wunderschön restauriert, transportfähig sind sie aber nicht mehr, so dass letztes Jahr Repliken dieser Kostüme zur Biennale nach Venedig geschickt wurden, wo sie einiges Aufsehen erregten.

Seit vielen Jahren geistert mir dieses Paar durch den Kopf. Ein Online-Artikel von mir über die beiden stammt von 2010, mein Radiofeature von 2016 im Deutschlandfunk steht ebenfalls noch online. Ich will die Geschichte der beiden hier nicht wiederholen -- und brauche es auch nicht, denn es gibt sie jetzt als Roman. Dessen Autor, Nils Jockel, könnte kompetenter nicht sein.

Foto: Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg

Jockel, langjähriger Kunstvermittler und Kurator, ist nämlich derjenige, der seinerzeit zusammen mit einer Praktikantin diese Tanzmasken auf dem Dachboden des Museums wiederentdeckte, und seitdem lässt auch ihn dieses Paar nicht mehr los -- um so mehr, als er indirekt durch die Falke-Schwestern auch familiäre Beziehungen zu der Geschichte hat (in Hamburg weiß man noch, wer sie waren).

Der Roman "Kellertänzer" bearbeitet sein Thema auf drei Ebenen: Zum einen ist dies die tatsächliche Geschichte Lavinia Schulz' und Walter Holdts, soweit sie sich rekonstruieren lässt. Zum zweiten erscheint auf der Biennale Jockel in Gestalt seines Alter Egos Nick Lainwander selbst in der Handlung und schildert -- zum Teil in Gesprächen mit einem Freund namens Daniel -- nicht nur den Fund der Tanzkostüme, sondern auch, was danach mit ihnen passiert oder eben nicht passiert ist. Er macht den Leser dabei mit einigen der Folgen bekannt, die seine Obsession für seine Beziehung zu Hannah hat. Und genau daraus resultiert die dritte Ebene, und die ist ausgesprochen clever: Da denkt nämlich sozusagen der Roman über sich selbst nach. Es geht um die Frage, wie weit man eigentlich real existiert habende Personen aus künstlerischen Gründen fiktionalisieren darf, wenn man nur Bruchstücke über ihr Schicksal kennt.

Damit sticht Jockel geradezu in ein Wespennest, denn fiktionalisierte Geschichten, Serien und Verfilmungen der Lebensgeschichten realer Personen, sogenannte Biopics, sind seit geraumer Zeit schwer in Mode, und ein Ende ist nicht abzusehen. Der Roman beantwortet die Frage nicht, aber man nimmt sie mit.

"Kellertänzer" ist gut lesbar geschrieben und führt den Leser tief in die Lebenswirklichkeit nicht nur der Künstler, sondern auch der "normalen" Menschen jener Jahre hinein. Jockel macht uns bekannt mit etlichen damals prominenten und teils heute noch klingenden Namen und vermittelt ein eindringliches Bild der zum Teil unfassbar elenden Lebenswelt der Menschen, die in der frühen Weimarer Republik nicht auf der Sonnenseite standen. Ich selbst hätte mir die Persönlichkeiten der Charaktere in einigen Punkten etwas anders vorgestellt, aber das schadet gar nichts, denn genau da stellt sich die Frage nach der Fiktionalisierung.

Wenn Nils Jockel am Ende des obenerwähnten Radiofeatures sagt, er sei noch immer nicht durch mit der Geschichte, dann weiß man nach der Lektüre dieses Buches, weshalb. Man legt diesen Roman nicht einfach aus der Hand. Er hallt noch tagelang nach.


Nils Jockel:
Kellertänzer
KJM Buchverlag 2024, 310 Seiten
ISBN 978-3-96194-231-2, 26 €

Sunday, May 5, 2024

Nichtsdestotrotz

Einer muss es ja tun. Das neue Album der Pet Shop Boys vorstellen nämlich. Na gut also, hier ist es.


Das fällt mir nicht mal schwer, es ist nämlich gut. Das hätte nach vier Jahren Covid-Pause seit Hotspot auch anders ausgehen können, aber es hat funktioniert. Das letzte Album, das die Fans noch richtig in zwei Lager gespalten hat, war Super, und das ist immerhin schon acht Jahre her. Jetzt bei Nonetheless, ihrem, wenn ich richtig zähle, fünfzehnten Album, mit dem sie wieder zu Parlophone zurückgekehrt sind, wird das kaum passieren.

Das Album ist solide Popkost mit sofort erkennbarem Sound. Neil Tennant wird in ein paar Wochen 70, man hört es seiner Stimme nicht an, inhaltlich hat er sich in die Rolle des Elder Statesman hineingefunden, und skandalfrei war die Band immer. Chris Lowe findet Melodien und Sounds, die ... ja, fast möchte man mit Bert Kaempfert sagen: die nicht stören . Der Produzent ist James Ford, dem es hier gelingt, orchestrale Klänge fast unauffällig ins Klangbild einzuschmuggeln, insgesamt aber sorgen sie für einen leichteren Sound als man ihn von früheren PSB-Platten kennt. Dass die Jungs auch mal Kraftwerk gehört haben müssen, kommt gelegentlich durch, etwa in Gestalt der "Zap"-Percussion in "Feel", aber das wird man als freundlichen Gruß ansehen dürfen. Und auch, wenn man manche Melodien auf Nonetheless schon irgendwo so ähnlich gehört zu haben glaubt: Geklaut ist hier nichts. Tennant und Lowe müssen nichts mehr beweisen, sie machen einfach "ihr Ding", wie man in Hamburg sagen würde. Wer genauer wissen möchte, weshalb das funktioniert, sei auf das neulich ausgestrahlte BBC-Portrait hingewiesen.

Dass die beiden zeitweilig in Berlin leben, wird deutlich in dem einzigen Stück, das bei manchen ein wenig Kopfschütteln ausgelöst hat: "The Schlager Hit Parade". Das ist ein etwas seltsamer Track: Für eine Schlagerparodie ist er weder textlich noch musikalisch angriffig genug, für eine Charakterisierung deutschen Musikgeschmacks kommt er wiederum zu gemütlich dahergeschuckelt. Der wirkliche deutsche Schlager scheint mir inzwischen fast härter zu sein.

Nach wie vor fasziniert mich die Stilsicherheit, mit der das alles inszeniert wird, von den Fotos bis in die Typografie. Dass der erste Erfolg der PSB, "West End Girls", tatsächlich schon 40 Jahre auf dem Buckel hat, hört man ihm nicht an -- das Stück könnte fast unverändert auch heute veröffentlicht werden. "Es gibt im Pop keine Alterdiskriminierung mehr", sagte Neil neulich im Guardian. Was nicht heißen soll, dass die beiden keine Entwicklung durchgemacht hätten. Aber die Veränderungen in den Sounds und Arrangements sind subtil. Die "DeLuxe"-Edition kommt mit einer zweiten Scheibe, die das beweist:


Die heißt Furthermore und enthält vier Neueinspielungen alter Titel. Kann man machen, muss man aber nicht. Die Tatsache, dass die Originale immer noch genauso gut funktionieren wie diese neuen Versionen, spricht genau für die Zeitlosigkeit der Stücke und ihrer Arrangements.

Wir sind gespannt auf Nummer 16.