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Tuesday, December 14, 2021

Literarisches Wimmelbild


Wimmelbilder kennt man: Zeichnungen, die umso mehr Details offenbaren, je länger man draufschaut. Wimmelbilder sind auch das Prinzip der meisten Film- oder TV-Serien: "Star Wars", "Batman" oder "Succession" führen zu immer detaillierteren Blickwinkeln auf Charaktere oder Sachverhalte. In der Literatur kennt man das Wimmelbildprinzip von Fortsetzungsromanen, sei es Enid Blytons "Abenteuer"-Serie oder sei es der immer weiter ins Detail gehende Blick auf die Figuren im Tolkienschen Kosmos. Letzthin hat Christoph Dallach weitgehend kommentarlos alle möglichen -- auch inkompatiblen oder einander widersprechenden -- Musikerstatements unter dem Rubrum "Krautrock" so zusammengefügt, dass sie doch eine kompakte Einheit bilden. Keine Meldung in den Fernsehnachrichten mehr, die nicht so gebaut ist, dass für morgen eine Fortsetzung möglich ist. Das Prinzip ist das der Selbstähnlichkeit des Apfelmännchens -- der Versuch, die Ordnung im Chaos zu sehen. Man wird durch ständig neue Ausschnittvergrößerungen aus Ausschnittvergrößerungen im Rahmen einer ständigen Wiederkehr des Immergleichen geführt.

Seit inzwischen nun auch bereits einiger Zeit findet man dieses Bauprinzip um bestimmte Jahreszahlen herum, die irgendeine "Schlüsselbedeutung" haben. Heinz Schilling schrieb über das Jahr 1517, Adam Zamoyski über 1815, Uwe Wittstock über den Januar 1933; Florian Illies hat das schon vor etlichen Jahren gemacht, als er die "Generation Golf" erfand. 2012 schrieb er ein Buch über das Jahr 1913 -- Tag für Tag, und auch das war ein Versuch, die diversen Ereignisse eines Jahres unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln. Und wenn man ein so exzellenter Schreiber ist wie Illies, dann wird aus einem solchen Flickenteppich wirklich eine lesenswerte Einheit. (Das Nachklappwerk "1913 -- Was ich unbedingt noch erzählen wollte" von 2018 war dagegen eher von der Sorte "Man merkt die Absicht und ist verstimmt".) 

Und jetzt gibt es "Liebe in Zeiten des Hasses". Hier geht es darum, in kurzen Abschnitten Schicksale, Lebenswege und Beziehungschaos etlicher durchweg bekannter Persönlichkeiten zwischen 1929 und 1939 thematisch zu vereinen, wobei das Buch im Prinzip nur eine Teilung kennt: Vor 1933 und nach 1933.

Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob das Buch eigentlich auch dann interessant wäre, wenn es darin nicht um wohlbekannte Größen wie Klaus und Erika Mann, Walter Benjamin, Gustaf Gründgens, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Bert Brecht samt Hofstaat, Hermann Hesse und viele, viele weitere ginge, sondern um Lieschen Müller und ihren kleinen, für die Weltgeschichte unbedeutenden Beziehungsstress. Könnte es sein, dass man hier einem wunderbar geschriebenen Namedropping auf den Leim geht? Ist das nicht die gehobene Variante der bunten Klatschblätter, die man beim Friseur liest? Zumal man sich beim Lesen zunehmend fragt, woher der werte Autor das alles eigentlich so genau wissen will und sich der Eindruck einstellt, dass da wohl oft nur zwei und zwei zusammengezählt worden ist. Dass eine unglaubliche Recherchearbeit in diesem Buch steckt, ist klar, die verwendete Literatur wird im Anhang auch genannt (und lädt in vielen Fällen zum Weiterlesen ein). Aber man weiß natürlich, dass nirgendwo so viel gelogen wird wie in Autobiografien und Tagebüchern, jedenfalls, wenn letztere von vornherein im Hinblick auf ihr Publikwerden nach dem Ableben ihres Verfassers entstanden sind.

Ernster wird das Buch im zweiten Teil. Da nämlich geht es nicht mehr vorrangig um scheiternde oder glückende Liebesbeziehungen, sondern nun werden diese zunehmend in den Kontext von Verfolgung, Exil und den nicht seltenen tödlichen Konsequenzen gestellt, und das ist dann eine andere Dimension. Da steht man vor den Trümmern so mancher Existenz. Und es wird einem klar, was für ein riesiger Unterschied es ist, ob man ein Land freiwillig verlässt oder ob das Wissen um das sonst mögliche Kaltgestelltwerden, den Knastaufenthalt oder gar den Tod dahintersteht.

Ein kleines Manko: Gelegentlich wird in diesem Buch auf veraltete Quellen zurückgegriffen. Der Tod Kurt Tucholskys etwa wird hier noch immer ausführlich als Selbstmord dargestellt; tatsächlich ist sich die neuere Forschung da aber gar nicht mehr so sicher -- wahrscheinlich war es doch eher der Unfallklassiker "Schlaftabletten und Alkohol". Erich Kästners tägliche Postkarten an seine Frau Mutter werden hier als klassische "Muttersöhnchen"-Beziehung geschildert. Dass das eine enge Beziehung war, darf man wohl annehmen, aber der Kästner-Biograf Klaus Kordon hat schon vor einigen Jahren eine nicht weniger einleuchtende These aufgestellt: dass nämlich Kästners Postkarten vorrangig den Zweck hatten, sich die Mutter vom Hals zu halten, indem er sie mit Informationen überflutete. -- Aber das sind Petitessen.

Irgendwie ahnt man schon, welcher Zeitraum als nächstes Wimmelbild kommen könnte. Und man ahnt, dass man wieder kopfüber hineinfallen wird.


(Dieser Post ist zuerst erschienen in manafonistas)

 

Saturday, December 4, 2021

Albums 2021

Albums:

 

1. Steely Dan: Northeast Corridor / Donald Fagen: The Nightfly Live
2. Lana Del Rey: Chemtrails Over The Country Club / Blue Banisters
3. Nick Cave & Warren Ellis: Carnage
4. Marc Johnson: Overpass
5. Mathias Eick: When We Leave
6. Can: Live in Stuttgart 1975
7. Floating Points, Pharoah Sanders & London Symphony Orchestra: Promises
8. Pittsburgh Symphony Orchestra, Manfred Honeck, cond.: Brahms: Symphony No. 4; MacMillan: Larghetto for Orchestra
9. Asmus Tietchens (Hematic Sunsets): Aroma Club Adieu
10. Daniel Lanois: Heavy Sun
11. András Schiff, Orchestra of the Age of Enlightenment: Brahms: Piano Concertos 1 & 2
12. Konstantin Semilakovs: Scriabin: Couleurs Sonores

 

Potential candidates that just didn't make it:

Balmorhea: The Wind
Bryan Ferry: Live At The Royal Albert Hall 2020
Moby: Reprise
Neil Young & Crazy Horse: Way Down In The Rust Bucket

 

Re-Issues:

1. Dave Pike Set: At Studio 2, March 11, 1971
2. Pet Shop Boys: Discovery -- Live In Rio 1994
3. Klaus Doldinger: The First 50 Years Of Passport
4. Gentle Fire: Explorations (1970-1973)

Not too many this year. But instead it was a year of re-discoveries:

 

Rediscovered:

January: 801 Live (1976) 
February: Cat Mother & The All Night Newsboys: The Street Giveth ... And The Street Taketh Away (1969)
March: Albert Mangelsdorff: Three Originals (The Wide Point, 1975; Trilogue, 1977; Montreux, 1980)
April: David Shea: Tower of Mirrors (1995) 
May: Hans Zimmer: The British Years (My Beautiful Laundrette, A World Apart u.a.) (2005)
June: Miles Davis: Big Fun (1974)
July: Hot Tuna: Hoppkorv (1976)
August: Ketil Bjørnstad, Bjorn Kjellemyr, Jon Christensen, Per Hillestad, Terje Rypdal: Water Stories (1993)
September: Hanns Dieter Hüsch: Abendlieder (1976)
October: Kraan: Live (1975)
November: Ougenweide: Herzsprung (2010)
December: The United States Of America: s/t (1968)

 

 

 

Wednesday, December 1, 2021

Zwischendurch ...

 mal wieder ein bisschen Klassik:



Das Pittsburgh Symphony Orchestra sollte mittlerweile zur Top-Riege amerikanischer Sinfonieorchester gezählt werden, es hat sich nur noch nicht überall herumgesprochen. Zu seinen früheren Chefdirigenten zählten André Previn, Lorin Maazel und Mariss Jansons, seit 2008/09 liegt die musikalische Leitung in den Händen des Österreichers Manfred Honeck. Orchester und Dirigent lieben sich offenkundig, gerade hat Honeck seinen Vertrag bis 2028/29 verlängert. Der Dirigent hat jahrelang in der Violasektion der Wiener Philharmoniker gespielt. Deren Klang hat er ebenso inhaliert wie den Interpretationsstil Carlos Kleibers, den er noch selbst erlebt hat. Und das hört man.

Brahms' Vierte ist die zwölfte Einspielung des PSO unter Honeck für das Reference-Label, das nicht aus Versehen so heißt. Nach Bruckners Neunter und Shostakowitschs Fünfter ist dies bereits die dritte Veröffentlichung, die mit einem Grammy bedacht worden ist.

Was kann man einem Schlachtross wie Brahms' Vierter noch abgewinnen? Sicherlich nichts sensationell Neues mehr, aber diese Liveaufnahme aus der Heinz Hall bietet eine energische Handschrift bei sehr großer instrumentaler Klarheit, insbesondere im Schlusssatz. Der dritte Satz heißt nicht nur "giocoso", sondern hat tatsächlich eine wahrnehmbare Spur Humor. Die Tonqualität ist außerordentlich gut, man kann im Kopfhörer praktisch jedem einzelnen Instrument folgen, trotzdem ist der Orchesterklang kompakt und zupackend. Das Publikum übrigens ist mäuschenstill, ich höre keinen einzigen Huster, aber das mag auch der Kunst des Tonmeisters zu verdanken sein (ich erinnere das aus etlichen Konzerten anders).

Das Larghetto for Orchestra des schottischen Komponisten James MacMillan war ein Auftragswerk des PSO anlässlich von Honecks zehnjährigem Jubiläum. Die CD enthält die Uraufführung von 2017. Ein wenig filmmusikartig ist das knapp 15-minütige Stück manchmal geraten, aber wenn weitere Orchester es übernehmen würden, hätte es gute Chancen, Samuel Barbers Adagio abzulösen.

Eine schöne Platte zum Jahresausklang.

 

(Dieser Post erschien zuerst in manafonistas.)

Monday, November 22, 2021

Rock and Roll Explorer Guide

 

Mike Katz und Crispin Kott haben bislang zwei Bände vorgelegt, ob eine Reihe daraus werden soll -- wer weiß. Beide Bände im Paperbackformat sind der Versuch, die Musikszene einer Stadt so aufzudröseln, dass Besucher sich einen Plan besuchenswerter Orte zusammenstellen können. In beiden Bänden steckt eine bemerkenswerte Recherchearbeit; die Aufmachung ist identisch. Die Adressen nicht mehr existierender Gebäude sind meist mit einem durchgestrichenen Kreis gekennzeichnet, was aber nicht immer der Fall ist -- in Amerika ist man im Abreißen ziemlich mitleidlos. Beide Bände besitzen Indexe, die leider nicht immer ganz korrekt sind. Die Bücher sind, wohl um den Umfang möglichst gering zu halten, aus einer kleinen, komprimierten serifenlosen Schrift gesetzt, was für einen alten weißen Mann das Lesen leider recht anstrengend macht.

 

 

Der erste Band, erschienen 2018, ist New York City gewidmet. Die Grundidee ist, die Stadt stadtteilweise nach Musikclubs, Kneipen, Konzerthallen, Plattenläden, Studios und gegebenenfalls auch früheren Wohnorten prominenter Rockmusiker abzugrasen, stets mit der genauen Adresse und vielfach mit Fotos dokumentiert. Dazwischen werden die Karrieren wichtiger Bands aus den jeweiligen Stadtteilen in Einzelkapiteln vorgestellt und aufgelistet, wo sie irgendwann mal aufgetreten sind, in welchen Studios sie welche Platten aufgenommen haben und was aus ihnen geworden ist.

So einleuchtend das klingt, der Haken dieser Vorgehensweise fällt schnell ins Auge: Es gibt eine Unzahl von Venues in New York, und fast alle Acts haben im Laufe ihrer Karriere in etlichen davon gespielt. Deswegen tauchen schon nach kurzer Zeit bei jeder Band immer wieder dieselben Veranstaltungsorte und dieselben Adressen auf. Das ermüdet ein wenig. Zum Durchlesen sind die Stadtteilkapitel deswegen eher nicht geeignet; sinnvoller ist es, anhand des Inhaltsverzeichnisses oder des Indexes bestimmten Bands oder Namen durch das Buch zu folgen. Dass die Auswahl der Namen angesichts der Unzahl von Bands begrenzt und subjektiv sein muss, versteht sich von selbst. Manchmal wundert man sich über die ungleiche Länge der Kapitel; die Velvet Underground etwa werden auf sechs Seiten bedient, wie auch die ur-New Yorker Talking Heads, die Beatles sogar nur auf fünf, Simon & Garfunkel erhalten immerhin neun -- wobei zuzugeben ist, dass deren Karriere um einiges nicht nur länger, sondern auch kurvenreicher verlief. Literarische Ansprüche darf man nicht stellen, aber darum geht es auch nicht.

Wer sich mit Hilfe dieses Buches durch New York City bewegt, kann beispielsweise die Häuserzeile entdecken, die auf dem Cover von Led Zeppelins Physical Graffiti zu sehen ist (96-98 St. Marks Pl) und mit Erstaunen feststellen, dass die Häuser in Wahrheit ein Stockwerk mehr besitzen als auf dem Foto. Oder man steht vor dem handtuchschmalen Gebäude einer Bankfiliale (105 2nd Ave) und wird von der Erkenntnis getroffen, dass dies einmal das legendäre Fillmore East war.

 

 

San Francisco und die Bay Area sind der Gegenstand des zweiten Bandes, erschienen 2021. Aufmachung und Aufbau sind identisch mit dem New-York-Band, aber weil San Francisco deutlich kleiner als New York ist und die Club- und Kneipendichte sehr viel niedriger ist, wird hier weniger auf die Stadtteile geschaut, sondern auf Bands. Und klar, dass der Schwerpunkt hier auf den Grateful Dead, Janis Joplin und Big Brother & The Holding Company sowie Jefferson Airplane/Starship liegt, in zweiter Reihe stehen Santana, Creedence Clearwater Revival, Quicksilver Messenger Service. Paul Kantners zweites Wohnzimmer immerhin kann man noch besuchen (Caffe Trieste, 601 Vallejo St, aber diese Adresse wusste der Fan natürlich auch schon vorher). Auch der Veranstalter Bill Graham hat ein eigenes Kapitel. Da im Gegensatz zu New York der musikalische Ruhm San Franciscos heute ein wenig verwittert ist, hält sich das Buch stärker an die selige Hippievergangenheit, was zur Folge hat, dass viele der erwähnten Clubs und Konzerthallen nicht mehr existieren. Der Winterland Ballroom etwa ist längst abgerissen, wer sich also zur Adresse 2000 Post St begibt, findet dort heute nur ziemlich einfallslose Apartmenthäuser vor. Der Carousel Ballroom, aus dem das Fillmore West wurde (10 South Van Ness Ave), beherbergte später einen Autohändler, der immerhin wusste, dass er auf musikhistorischem Grund residierte und im Hinterzimmer eine Art Fillmore-Museum betrieb. Aber auch der ist weg, heute steht dort ein neutrales Geschäftsgebäude mit einem Café. Oh Nostalgia ...

Wer also eine Musikreise plant (und sei es nur im Kopf oder per Streetview): Dies ist empfehlenswerte Lektüre.

Saturday, October 23, 2021

Treppauf, treppab

Der Corona-Shutdown scheint so manchen zu erhöhter Aktivität veranlasst zu haben. So auch Lana Del Rey, die soeben mit leichter Verzögerung ihr zweites Album in diesem Jahr vorgestellt hat: Blue Banisters, blaue Treppengeländer -- wie sinnbildlich man immer den Titel verstehen möchte.

Denn in der Tat: Lana nimmt den Hörer an die Hand und führt ihn durch eine sehr seltsame, völlig in sich geschlossene Landschaft. Blue trifft es recht gut, blau, dunkelblau ist die Stimmung des Albums. Moorlandschaft unter Vollmondlicht. Einerseits hätte Blue Banisters auch zusammen mit Chemtrails Over the Country Club als Doppelalbum erscheinen können, andererseits aber auch nicht. Bei genauerem Hinhören unterscheiden sich die Alben nämlich doch. Wenn man das Poetry-Album einmal mitrechnet, dann ist dies Lanas neunte Platte seit 2012, es ist also eine gewisse Routine eingetreten, und die zahlt sich aus. Lana Del Rey ist eine Kunstfigur und bleibt dem einmal gewählten Rollenbild auch hier wieder treu, arrangiert dessen Bauelemente aber immer wieder einmal um. Und sie weiß genau, in welchen Lagen ihre Stimme am eindrücklichsten wirkt. 

Fünfzehn Songs, die meisten um die viereinhalb Minuten lang. Die Grundstimmung (ohne hier jetzt auf die teils expliziten Texte einzugehen, die ich noch nicht alle entschlüsselt habe) ist Drama, zeitbezogen, und doch irgendwie an Hollywoods Schwarze Serie erinnernd. Das Album basiert im wesentlichen auf dem Piano, dem Grand wie dem E-Piano. Dazu kommt sparsames Schlagzeug, das gelegentlich allerdings brachial zuschlägt, irgendwo ist auch ein Morricone-Sample eingebaut. Lana rollt ihre Stimme aus wie einen samtenen Teppichläufer, auch dieser allerdings unterbrochen von gelegentlichen Ausbrüchen, die fast ins Hysterische gehen, dann aber doch wieder abgebremst werden. Sie liebt bestimmte melodische Wendungen, die immer wieder in vergleichbarer Weise auftauchen, baut in die Songs aber auch seltsame Melodiesprünge ein, bei denen man nicht immer genau weiß, ob sie einen aus der Bahn werfen sollen oder ob sie einfach kompositorisch nicht ganz zu Ende gedacht sind. Auch greift sie gern mal die inzwischen etwas aus der Mode geratenen Mittel des Tempo- und/oder Rhythmuswechsels auf.

Was mich an diesem Album besonders fasziniert hat, ist die Art der Produktion. Man hat fast den Eindruck, das Album bestünde aus zwei Klangschichtungen, einer inneren und einer äußeren. Für den erwähnten Teppichläufer (das Bild ist mir nicht aus Versehen eingefallen) werden altertümliche Platten- und Federhall-Effekte eingesetzt, die dem Ganzen einen leichten Sechziger-Jahre-Touch geben -- warm, aber nicht räumlich. Dazu kommen Einwürfe, die aus einer anderen, sehr heutigen Klangebene hinzugefügt werden und sozusagen von außen auf die innere Klangebene prallen -- das ist sehr faszinierend. Man achte auch einmal darauf, wie viele Stimmen man eigentlich hört. Dass Lana ihre Stimme gern doppelt, ist nicht neu, das ist auch hier wieder so. Hier aber singt sie punktuell ganze Chöre, die streckenweise fast an Mahlersche Fernchöre erinnern. Es ist sehr reizvoll, im Kopfhörer einmal genau darauf zu achten, wie die diversen Stimmen sich akustisch unterscheiden und im Panorama verteilt sind -- das ist alte Abba-Schule, handwerklich perfekt. 

Einige Kritiker haben Blue Banisters bereits ziemlich verrissen. Mit gefällt das Album nach einmaligem Hören sehr gut. Lediglich scheint es mir ein wenig lang geraten zu sein. Ein oder zwei Stücke weniger wären auch in Ordnung gewesen. Auf jeden Fall ist dies eine Platte, nach der man nicht sofort andere Musik hören möchte.



 

Friday, October 8, 2021

Zeitreise

Stefan Aust nennt sich "so 'ne Art Journalist", findet sich "überdurchschnittlich durchschnittlich" und gehört damit spätestens seit den späten 1960er Jahren zu den wenigen deutschen Journalisten, die ich als wichtig bezeichnen würde. Seine Reise führte ihn von der Schülerzeitung Wir über die St.-Pauli-Nachrichten zu konkret, von dort zur "Panorama"-Redaktion des NDR, zur Spiegel-Chefredaktion, er brachte mit Alexander Kluge Spiegel-TV und dessen diverse dctp-Derivate zum Laufen, er gründete XXP und übernahm damit Vox TV, war Mitgründer von n-tv, und heute ist er Herausgeber der Welt. Dass er dort mal landen würde, hätte er zu Beginn seiner Karriere sicher nicht gedacht -- obwohl: Damals war die Welt noch ein liberales Blatt. Freier Filmemacher und Buchautor ist er noch dazu. Und -- nicht zu vergessen -- Pferdenarr.

Dankenswerterweise verzichtet Aust auf langes persönliches Brimborium, er hält sich als Privatperson sympathisch zurück und nimmt uns statt dessen mit auf eine 650 Seiten lange Reise, die wahrlich den Namen "Zeitreise" verdient. Austs kritische Begeisterung für die USA macht Lust, seine Reisen nachzureisen; er hat den richtigen Blick für das Wesentliche. Von Station zu Station fallen einem die Ereignisse wieder ein -- die meisten davon hat man ja mitbekommen, nur hatte man längst vergessen, wer der Berichterstatter war: Der Besuch des Schah von Persien, der mit dem Tod Benno Ohnesorgs endete. Die Baader-Meinhof-Zeit, der Bestseller und der daraus resultierende Film (den er für sehr gelungen hält, ich bin da etwas weniger überzeugt). Die Anti-Atom-Bewegung. Die Hitler-Tagebücher. Tschernobyl. Der Mauerfall. Und, und, und; ich will es nicht alles aufzählen. Manches interessiert mehr, manches weniger. Die Story um den Agenten Mauss etwa hat mich schon damals nicht interessiert, und auch hier im Buch habe ich sie nur quergelesen. Um so interessanter aber Austs durch konkret entstandene Kontakte zu Ulrike Meinhof, bis hin zu der Geschichte, wie er ihre Kinder aus Italien nach Deutschland holte. Auch wenn Austs Erzählstil eher cool ist, so merkt man ihm doch an, dass manche Ereignisse nicht ganz so cool waren, als sie passierten. Und auch heute noch darf man pointierte, aber stets begründete Ansichten von ihm erwarten; etwa zu Fridays for Future und der heiligen Greta -- und gerade aus der Perspektive über den Atlantik ist das interessant.

Ein bisschen verblüffend ist die scheinbare Geradlinigkeit von Austs Karriere. Jede Station scheint sich aus der davor zu ergeben; man hat das Gefühl, da gab es kaum mal Zweifel oder Entscheidungen, die im Nachhinein bedauert wurden. Aber das ist eine Eigenart vieler Autobiografien. Sie resultiert aus der Rückschau, vielleicht ist das nicht zu vermeiden. Lesenswert, alles in allem. Mit Fotostrecke und einem schönen roten Lesebändchen.




 

Monday, September 27, 2021

Double Feature

Is it really seven years ago already that I had the pleasure to see Steely Dan on stage? My review says so.

Now they released a live album. Northeast Corridor.




The line-up is more or less the same as seven years ago -- only Walter Becker is missing, of course. The album is dedicated to his memory.

Recorded at four different venues, probably in 2019, the Steely Dan Band, as it's called now, played a sort of Greatest Hits set, from "Black Cow" to "Reelin' In The Years", even "Rikki Don't Loose That Number" is on the setlist, a track they didn't want to play formerly. One song from the Everything Must Go album is presented here live for the first time, "Things I Miss The Most", "A Man Ain't Supposed To Cry", an old Frankie Laine number, which appears as track 12 here, was the last encore. 

The musicians and singers, without exception, are superb. Even when Donald Fagen gets a bit into fights with the higher notes (he's 73 now, so I think he's allowed to), the four back-up singers stand in perfectly, you hardly notice how well they do it.

As you would expect from Steely Dan, the sound is absolutely first-class, the audience is audible but not mixed into the foreground, you can follow the overall sound as well as every single instrument, especially when using headphones. What else could you wish for!

But there's more!

There's also this:

 


The Steely Dan Band plays Donald's full solo album The Nightfly from 1982. The sleeves don't tell the recording dates, but it's same band and same venues, and the sound tells me that it's probably been a part of some of their 2019 shows. The vocals in "Maxine" are left completely to the back-up singers which works beautifully.

These two albums -- I think they belong together -- could easily be my records of the year. Just fantastic!

Saturday, August 21, 2021

Into the Rabbit Hole

 

Wie schnell so etwas geht. Da wollte ich einfach nur herausfinden, von wem eigentlich Manfred Weissleder das Kino kaufte, aus dem er dann den Star-Club machte. Und plötzlich war ich mitten in der Hamburger Kinogeschichte.

Auf St. Pauli, Große Freiheit 39, gab es ein Ballhaus namens "Sternsaal". 1949 erschien eine gelernte Filmvorführerin mit dem wunderbaren Namen Jeltheda Fraukina Lümmy Iderhoff aus Ostfriesland auf der Bildfläche, kaufte den bereits recht angejahrten Laden und machte daraus die Stern-Lichtspiele, ein Kino mit immerhin 750 Plätzen. Erfahrungen mit der Kinogeschäftsführung hatte sie bereits in Berlin gemacht, vorsichtshalber nahm sie als Geschäftspartner aber noch Walter Cartun dazu, der bereits einige andere St.-Pauli-Kinos betrieb. Frau Iderhoff stieg bereits 1951 wieder aus. Cartun führte die Stern-Lichtspiele allein weiter. 1962 brach ein Brand aus und das Kino hätte renoviert werden müssen. Da das Geschäft zu der Zeit nicht mehr gut lief, kam es Cartun mit Sicherheit sehr gelegen, dass Manfred Weissleder, seines Zeichens König von St. Pauli, dem schon weitgehend die linke Seite der Großen Freiheit gehörte, einen Notausgang für seine Erotic Bar im 1. Stock des Nebenhauses benötigte. Die einzige Möglichkeit, die er dafür hatte, war ein Wanddurchbruch zum Kino, und Cartun nutzte die Gelegenheit, das Gebäude loszuwerden, indem er es Weissleder verkaufte. Der hatte nun den Notausgang, den er brauchte, und ein renovierungsbedürftiges Kino, das er nicht brauchte. Als dann Horst Fascher, Rausschmeißer im Indra, ihm vorschlug, einen Musikclub zu starten, wusste er, wozu das Kino zu gebrauchen war, und so wurde wieder eine Art Ballhaus daraus. Star-Club hieß der Laden dann deshalb, weil Weissleder, praktisch denkend, wie er war, auf diese Weise den Neonstern an der Fassade weiter verwenden konnte. Der ist heute ein Ausstellungsstück im Museum für Hamburgische Geschichte.

Dann stieß ich im Web auf ein Foto der Frau Iderhoff, und es dämmerte mir, dass ich sie kannte. Da war ich wohl 11 oder 12 Jahre alt. Sie hatte nämlich 1951 eine kleine Kinokette gegründet: vier Stadtteilkinos namens "Roxy", und eines davon lag in der Osterstraße in Eimsbüttel, fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt, und kinoverrückt, wie ich als Kind schon war, habe ich ungezählte Jugendvorstellungen dort zugebracht. Die liefen immer Sonntags um 11 Uhr; ich erinnere mich unter anderem an die Fantomas-Trilogie, an U-2000, viele Donald-Duck-Filme und vieles mehr.

An Kinos faszinierte mich wirklich alles, und ich habe dem Personal Löcher in den Bauch gefragt -- wo die Lautsprecher sind, was das für eine Folie in den Schaukästen ist, ob sie die "Heute"- und "In Kürze"-Schilder selber gemalt hätten, wie man das Licht dunkler werden lassen konnte (von Dimmern wusste ich noch nichts), wie man die Fotos in den Schaukästen nennt ("Lobbycards", mir unvergesslich), ob man diese Klappsitze eigentlich fertig kaufen könnte, und, und, und. Ich hatte da keinerlei Skrupel. Und -- das habe ich erst jetzt auf dem Foto wiedererkannt -- eines meiner Opfer war jene Frau Iderhoff. Sie war nicht immer da, ich wusste nicht, wie sie heißt, und schon gar nicht, dass sie die Besitzerin war. Aber sie war sehr geduldig mit mir. Beiläufig habe ich ihr erzählt, dass meine Tante Else (genau gesagt: meine Großtante) in den Eidelstedter Lichtspielen an der Kasse gesessen hatte und jetzt im Esplanade war. Das Esplanade war Hamburgs prachtvollstes Uraufführungskino, ein ehemaliger Ballsaal in einem Hotel.

Tatsächlich, Frau Iderhoff kannte meine Tante. Sie gab mir schöne Grüße mit auf den Weg. Damit war ich für sie dann wohl irgendwie in der Kinofamilie, und plötzlich durfte ich sogar einen Blick in den Vorführraum werfen.

Tante Else gelangte zu 15 Minutes of Fame, als im August 1970 am hellichten Tag die Esplanade-Kasse überfallen wurde. Das ging durch die Presse, und wie ich vermute, wird sie die Zeitungsartikel gerahmt haben. Der Täter wurde nie gefasst, sehr groß kann seine Beute nicht gewesen sein. Das Kino schloss 1982, stimmungsvoll mit Viscontis Tod in Venedig.

1968 wurde das Roxy geschlossen, das Kinosterben machte auch vor der Osterstraße nicht Halt. Das kleine Urania war schon lange weg, McDonald's zog ein, das Emelka, 100 Meter vom Roxy entfernt, hielt sich auch nicht mehr lange. Immer hatte ich gerätselt, was das für ein seltsamer Name sei -- "Emelka". Die taten da allerdings immer sehr geheimnisvoll. Aber irgendwann hat es mir die Kartenabreißerin verraten: Das Kino gehörte ursprünglich zu einer Filmproduktionsfirma, der Münchner Lichtspielkunst -- MLK. Da musste man erstmal drauf kommen. 1969 zog dort ein Pro-Markt ein, dem man bis heute ansieht, dass er mal ein Kino war Und das Roxy wurde abgerissen. Ich klaute aus den Trümmern ein paar Lobbycards und ein "Heute"-Schild. So lebte das Kino in meinem Kinderzimmer noch eine Weile fort.

Noch heute kann ich an keinem Kino vorbeigehen, ohne die Fassade zu fotografieren. Und noch immer habe ich einen fast untrüglichen Blick dafür, ob ein Gebäude mal ein Kino war. Und davon gibt es viele. 

Der Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert schrieb einmal ein Kurzgeschichte namens "Der Stiftzahn", in der er einen Kinobesuch schildert, in dem jemand vor Lachen seinen Rahmbonbon mit Stiftzahn verliert. Ich bin als Student nach Eppendorf gezogen und wohnte dort quasi "um die Ecke" von Borcherts Haus. Immer habe ich mich gefragt: In welchem Kino war das wohl? Es hatte ein paar Kinos in Eppendorf gegeben (auch dort war Frau Iderhoff mit einem Roxy präsent, aber natürlich viel später). Eine Stadtteilführung löste das Rätsel: Das Kino war genau gegenüber meiner Wohnung gewesen. Es hieß "Viktoria-Lichtspiele" und war mit ungefähr 200 Sitzen das, was man in Hamburg als "Flohkiste" zu bezeichnen pflegte.

Das Kino war 1963 geschlossen worden, aber wenn man sich den Spar-Markt, der jetzt darin war, genauer ansah, dann war der Grundriss eindeutig. Der Seitenausgang zur Straße war noch da, er diente jetzt als Lieferanteneingang, auch der Vorführraum war noch klar im Haus zu lokalisieren. Nach dem Spar-Laden zog Schlecker ein, was nach dem gekommen ist, habe ich nicht mehr mitbekommen.

Ein Buch, das seit Jahren mehr oder weniger ungelesen bei mir im Regal stand, habe ich jetzt wiederentdeckt. Eine unglaubliche Fleißarbeit. Da findet man sie alle wieder, die Kinos. Auf dem Cover sieht man das Harmonie-Kino in Wandsbek, in dem offensichtlich gerade Der Würger von Schloss Blackmoor gezeigt wurde -- der einzige Film aus der Edgar-Wallace-Reihe, dessen Musik nicht von Peter Thomas, sondern von Oskar Sala und seinem Mixturtrautonium stammt. Den habe ich auch mal besucht, in seinem Charlottenburger Studio. Die Welt ist klein.

Michael Töteberg, Volker Reißmann:
Mach dir ein paar schöne Stunden -- Das Hamburger Kinobuch.
Edition Temmen, Bremen 2008.

 

So war das.

Wednesday, August 4, 2021

Greentea Peng

 


Before the world is drowning in the current Billie Eilish hype, here's something that's interesting too. Greentea Peng of London rediscovers not only Trip-Hop but also the transverse flute. For the sake of cosmic harmony, all instruents are tuned down to 432 Hz instead of the usual 440 Hz. I don't know what the cosmos has to say about it, but for me it sounds good.




Thursday, June 17, 2021

[AT 09] Asmus Tietchens: Musik an der Grenze

 

Man dürfe nie vergessen, so schrieb Asmus Tietchens einmal, dass wir von unheimlichen Dingen umgeben seien.

Eines davon heißt Musik an der Grenze. Es handelt sich um eine Cassettenproduktion, die vierte einer Art Werkreihe, 1982 in England veröffentlicht. Dies ist ebenso harte Kost wie schon der Vorgänger Musik im Schatten. Während die allerdings ihren Schwerpunkt vorrangig auf brachialen Sounds hatte, wird hier weniger mit Sounds als mit Wiederholungen kurzer Patterns gearbeitet. Klangquellen sind wieder der Moog Sonic Six, außerdem steuerte Okko Bekker zusätzliche Synthesizerklänge bei. In Track 4, "Titanic", scheint mir sogar einmal ein Sequenzer im Einsatz zu sein, der sonst in der Musik Asmus Tietchens' keine große Rolle spielt. Die Wiederholungen basieren auf Tapeloops, die der Meister unter dem Pseudonym Loop de Vega angefertigt hat.

Das Kernstück ist die zehnminütige "Kultmusik für ein altes Ländle". Das klingt gemütlich, ist es aber nicht. Über einer Art Bordunklang und ringmodulierten Geräuschen liegen seltsame, verhangene Chöre und verzerrte, klagende, teils anscheinend weinende oder schreiende Stimmen, immer aber bleiben sie undeutlich; man ahnt sie mehr als dass man sie hört. Dazu setzt nach etwa einer Minute eine verdoppelte und verhallte Stimme ein, die monoton, getragen, unablässig und von dumpfen Trommelschlägen begleitet den Satz "Austria es it orbis ultimo" wiederholt. So jedenfalls höre ich den Satz, der sich offenkundig an das alte Habsburger-Motto "Austria est imperare orbi universo" (oder auch A.E.I.O.U.) anlehnt. Grammatikalisch ergibt der Satz wenig Sinn, aber das macht nichts, der Tonfall, in dem er gesprochen wird, und die endlose Wiederholung entfalten Wirkung: Im Kopfhörer gehört erzeugt dieses Stück eine hypnotische und gleichzeitig zunehmend beklemmende Stimmung.

Musik für zwei Uhr nachts, wenn man gute Nerven hat.

 

Musik an der Grenze
Yorkhouse Records YHR 024 (England 1982)

Wiederveröffentlicht wiederum als Cassette auf Auricle Music 025 (England 1987)

Wednesday, May 26, 2021

3 x PSB

 Es gibt drei Nachrichten, die Pet Shop Boys betreffend:

 


Diese Single. Sie ist etwa so kratzig wie der Pullover aussieht. "Cricket Wife" ist ein fast zehn Minuten langes Stück mit verschlungener Melodie, das auf einem Gedicht von Neil Tennant basiert. Es kommt ohne -- wie heißt es immer so schön -- Kirmesdisco daher, statt dessen wird der Song getragen von sinfonischen Klängen. Einziger Haken: Diese Klänge sind synthetisch, sollen aber wie ein Orchester klingen. Hätte man statt dieser elektronischen Sounds ein wirkliches Orchester eingesetzt, hätte dies eine interessante Nummer werden können. So ist sie leider nichts Halbes und nichts Ganzes.

Auf der B-Seite bzw. als zweiter Track findet sich eine neue Abmischung von "West End Girls", die sogenannte "Lockdown-Version", was schon darauf hindeutet, dass sie nicht im Studio, sondern in Neils und Chris' jeweiligen Wohnungen entstanden ist.

Schon das Coverfoto ist zum Liebhaben. An den Film My Beautiful Laundrette von Stephen Frears erinnern sich sicherlich noch alle. Im September 2019 entstand in Leicester eine Bühnenversion des Stücks, zu der die Pet Shop Boys zwei Songs und einige Zwischenmusiken lieferten. Die EP war zunächst nur in Verbindung mit dem jährlichen "Annual"-Buch der beiden zu erhalten, nun gibt es sie auch zum Download. Hörenswert.

Und, am Rande bemerkt: Ein interessanter Trend, dem die Pet Shop Boys hier folgen. Wenn es früher einmal üblich war, in dem einen Jahr ein neues Album zu produzieren und im darauffolgenden mit dem Album zu touren, so ist die Popwelt inzwischen derartig schnell geworden, dass ein neues Album nach zwei Jahren heute bereits als "Comeback" gewertet werden würde. Immer mehr Stars und Sternchen gehen deshalb dazu über, statt eines Albums nur noch EPs zu produzieren -- dies dann aber jährlich. In einer Zeit, da sich Popkarrieren oft nur noch nach Monaten bemessen, ist das wohl konsequent, damit der Name nicht vergessen geht. 


 


Discovery -- Live in Rio 1994 war bislang nur als VHS-Cassette oder als Laserdisc zu haben und natürlich längst vergriffen. Nun gibt es den Konzertmitschnitt wieder, diesmal auf zwei CDs und einer DVD. Das Konzert überrascht wenig, "Tonight Is Forever" eröffnet die Show, und die enthusiasmierten Cariocas sehen das offenkundig auch so. Die Bühne kommt mit großer Showtreppe daher, die Show ist perfekt geprobt, auch die bereits gewohnten Kostümwechsel kommen zuverlässig. 1994 gab es zwischendurch im Konzert noch eine Art "unplugged"-Runde, in der Neil zur Gitarre greift; in späteren Konzerten findet man dies nicht mehr; in der Dampfhammernummer "Paninaro" sprechsingt hier auch einmal Chris. Wie oft, haben die Pet Shop Boys auch hier eine Backup-Sängerin vom Feinsten engagiert: Katie Kissoon, die man von Mac & Katie Kissoon bis hin zum Orchester James Last kennt. In einer wunderbaren Kombination des Songs "It's A Sin" mit dem alten Gloria-Gaynor-Hit "I Will Survive" singt sie die Gaynor-Teile. Außerdem gibt es die Coverversion des Blur-Titels "Boys & Girls", der es mit dem Original aufnehmen kann. Verblüffend, wenn man darüber nachdenkt, ist die Tatsache, dass selbst 1994 einige der dargebotenen Hits schon über zehn Jahre alt waren. Die Jungs sind tatsächlich schon lange dabei. Auf Betriebstemperatur kommt die Show erst im letzten Drittel, dann allerdings wirklich.

Weniger ansprechend finde ich die Tänzer -- etliche Go-Go-Girls und -Boys erinnern an alte Beat-Club-Zeiten, zeitweilig geht das Ganze in mir etwas zu schwül geratene Schmuseszenen sowohl m/w als auch mm/ww über. Ich weiß nicht, ob das 1994 noch ein Tabubruch war, festzuhalten bleibt jedenfalls, dass jeder zweitklassige Stripschuppen auf St. Pauli solche Szenen besser über die Bühne bringen könnte.

Die Aufnahmen sind naturgemäß Videoaufnahmen, und man hat darauf verzichtet, sie mit heutigen technischen Mitteln zu verbessern. So sieht man dann seit langer Zeit wieder einmal Bilder im Format 4:3 und dazu kräftiges Farbrauschen bei blauem und rotem Scheinwerferlicht. Auch der Ton auf den beiden CDs ist kaum nachbearbeitet worden, klingt ein wenig matt und unterscheidet sich nicht von dem der DVD; lediglich habe ich das Gefühl, dass auf den CDs das Publikum etwas stärker in den Vordergrund gehoben wurde. 

Für Fans.

Womit der Chronistenpflicht Genüge getan sei. 


(Zuerst erschienen in manafonistas.de)

Tuesday, April 13, 2021

Krautrock Books

My esteemed publisher has compiled a list of almost all available book publications on the subject of krautrock:



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Sunday, April 11, 2021

Violinen wachsen nicht auf Bäumen


Seit 1970 produziert Klaus Schulze Platte um Platte -- unmöglich fast, auch nur einen Teil davon zu kennen, wenn man nicht wirklich "die-hard fan" ist. Zu denen zähle ich nicht, gleichwohl ist die Musik Klaus Schulzes für mich ein Wegbegleiter durch die Jahrzehnte gewesen.

Verblüffend, dass es in all den Jahren keine vernünftige Biografie gegeben hat. Es mag damit zusammenhängen, dass Schulze sein Privatleben privat hält. Auch in dieser vor kurzem erschienenen Biografie von Olaf Lux (den man sicher als "die-hard fan" bezeichnen darf) findet sich darüber eher wenig. Das schadet aber nichts; das Wenige, das man erfährt, lässt darauf schließen, dass Schulzes Leben im Prinzip relativ unspektakulär verlaufen und er selbst bei allem Erfolg ziemlich bodenständig geblieben ist.

"Violinen wachsen nicht auf Bäumen" ist ein Ausspruch, den Klaus Schulze Journalisten und anderen Fragern entgegenhält, die den Synthesizer für kalte Technik und auf ihm gespielte Musik für "künstlich" oder "tot" halten. Dieses Argument trägt schon deshalb nicht, weil auch Gitarren oder eben Geigen Produkte einer hochstehenden Technologie sind, außerdem spielen Synthesizer nicht von allein, sondern bringen nur das an den Lautsprecher, was ein Musiker aus dem Instrument macht. Das bedeutet: Man muss auch das Spielen auf einem Synthesizer erlernen, und bis man das Instrument beherrscht, stecken hunderte, wenn nicht tausende von Stunden darin.

Elektronikfans haben allerdings leicht mal die Tendenz, die elektronischen Instrumente zum Fetisch zu erheben. Die manchmal ellenlangen Listen des verwendeten Equipments auf LP-Covern (auch Schulzes) sprechen Bände. Olaf Lux weiß die Instrumente einzuordnen, fällt aber dieser Fetischisierung nicht anheim. Platte für Platte wird in chronologischer Reihung vorgestellt, gelegentlich kurz von Exkursen unterbrochen, die auf Weggefährten, Plattenfirmengründungen und -pleiten, Live-Situationen, Schulze als Produzent und andere Dinge eingehen, auch Schulzes jahrelange Alkoholprobleme werden nicht verschwiegen. Das meiste war mir nicht neu, aber trotzdem findet sich zu fast jeder Platte irgendeine Hintergrundinformation, die ich noch nicht gehört hatte. Die Arbeit, das alles zusammenzutragen, muss enorm gewesen sein (zumal Schulze selbst für den Verfasser nicht zu sprechen war). 

Wenn ein Fan die Biografie seines Stars schreibt, ist das immer ein Seiltanz. Der ist hier im Großen und Ganzen geglückt. Das eine oder andere kritische Wort zu Schulzes überbordender Veröffentlichungspolitik hätte ich mir schon gewünscht, und für mein Gefühl sind viele Platten Schulzes einfach zu lang. Aber das ist Geschmacksache. Wenn ich sagen sollte, welche Platten von Schulze ich für wirklich wichtig halte, dann fallen mir fünf oder sechs ein -- die allerdings sind dann wirkliche Meilensteine.

Wer sich für Klaus Schulze interessiert, kann unbesorgt zugreifen, wer ihn nicht mag, wird mit diesem Buch nicht viel anfangen können. "Violinen wachsen nicht auf Bäumen" ist gut geschrieben und handwerklich gut gemacht, auch wenn man sieht, dass es kein professionelles Satzbild ist. Das Buch hat -- was bei selbstpublizierten Werken aus Kostengründen nicht immer selbstverständlich ist -- eine gut lesbare Schrift (mein Tipp: Century Schoolbook oder eine ähnliche) in gut lesbarer Schriftgröße (die meisten Leser werden schließlich nicht mehr die jüngsten sein), ist parallel in deutscher und englischer Sprache erhältlich, hat 540 Seiten, kostet 39,99€ und ist nur hier zu beziehen.


(Diese Besprechung wurde zuerst auf manafonistas.de veröffentlicht.)

Wednesday, April 7, 2021

Käsebier


In den 1920er Jahren gab es im Norden Berlins "Carows Lachbühne". "Und lassen ein infernalisch-langes Programm über uns ergehen: Steptänzer; eine sehr gute Akrobatengruppe; ein unsägliches Melodram, in der umfangreichen Hauptrolle die ebensolche Frau Direktor; ein Kritiker, über den das Publikum jucheit … Das Publikum freut sich überhaupt über alles, am meisten die Frauen, bei denen der Analhumor jeden anderen hinreichend vertritt," schrieb Tucholsky über diese Bühne. Nun kenne ich mich in den 1920ern ganz gut aus, und immer wusste ich irgendwoher, dass Erich Carow wohl das Vorbild für eine Romanfigur gewesen ist, habe aber nie herausfinden können, für wen und was für ein Roman das gewesen sein soll. Ich weiß es jetzt, und ich weiß nun auch, dass die Autorin Carow nicht als Vorbild beabsichtigt hatte. Die Presse klebte dem Roman aus Reklamegründen das Etikett "Schlüsselroman" an, und Carow wurde den Käsebier nie mehr los.

Um dieses Buch nämlich geht es: Käsebier erobert den Kurfürstendamm, geschrieben 1931 von Gabriele Tergit. Die Geschichte beginnt im Winter 1929. Ein Reporter der "Berliner Rundschau" sieht in einem Berliner Vorstadtkabarett in der Hasenheide den nicht unbegabten, aber durchaus mittelklassigen Volkssänger Georg Käsebier, und weil er sich in seiner Redaktion hocharbeiten möchte, schreibt er Käsebier zum Megatalent hoch. Damit tritt er eine Lawine los, die gesamte Presse steigt darauf ein und schießt Käsebier in die Umlaufbahn. Seine Auftritte sind ausverkauft, Karten werden schwarz gehandelt, eine Tournee startet, die Märkte werden geflutet mit Käsebier-Biografien, Fotobänden, Zigaretten, Puppen, Schallplatten, Ufa-Filmen. Das Ganze gipfelt darin, dass ihm ein eigenes Theater am Kurfürstendamm gebaut wird, mit Garagen, Läden und Wohnungen.

Die sich allerdings als völlig verbaut, am Bedarf vorbei entworfen und deshalb unvermietbar herausstellen. Und nach einem Jahr ist Käsebiers Höhenflug ohnehin beendet, er ist so schnell aus der Mode geraten, wie er Mode wurde. Man verrät nicht zuviel, wenn man sagt, dass das Theater am Ende abgerissen wird, Käsebier unerkannt in Kneipen auftritt, Handwerker pleite sind, die "Berliner Rundschau" zu einem Krawallblatt modernisiert worden ist, das eingestellt wird -- während der Geschäftsmann, der das angerichtet hat, schon wieder mit gutem Gehalt woanders im Trockenen sitzt. Man kennt diese Mechanismen, sie unterscheiden sich nicht sehr von den heutigen.

Aber das alles ist nur der rote Faden, der Witz des Romas liegt anderswo. Gabriele Tergit war Gerichtsreporterin des "Berliner Tageblatts", damals eine der großen Berliner Tageszeitungen mit einer Viertelmillion Auflage, zweimal täglich erscheinend. Sie hat in diesem Buch das Kunststück fertiggebracht, alle möglichen Typen geradezu glashart und trotzdem mit großer Sensibilität zu portraitieren -- die berühmten "Schöneberger Witwen", die in ihren 12- bis 14-Zimmer-Wohnungen leben, von denen sie allerdings aus finanziellen Gründen schon zehn untervermietet haben, die Redaktionskollegen (zwei davon sind unmittelbare Denkmäler von Kollegen Tergits), das gesamte Geschwerl, das immer dort ist, wo die politische Stimmung und die Gewinnerwartung hintendiert, der kleine Unternehmer, der durch die Fehler anderer so verschuldet ist, dass ihm nur noch die Pistole bleibt, die großspurigen Mini-Goebbels, die ganz klein werden, wenn es gilt, Farbe zu bekennen, die fast schon zynischen gebildeten und gelangweilten Mittdreißigerinnen mit Doktortitel, die auch mit Körpereinsatz arbeiten, um geheiratet zu werden. Aber nicht immer ist das Zynismus. In der Person Käte spiegelt Tergit eine enge Freundin, und man versteht, wie jemand so wird. Der zunehmende, schleichende Antisemitismus, die dunklen Wolken am Horizont, die sich ausbreitenden Nazis, sie sind da. Nicht als Hauptthema, sondern als Bestandteil des Alltags und des Berufs. Und wer will, lernt in diesem Buch präzise, wie damals eine Zeitung gemacht wurde, von der Redaktionshierarchie bis zum Metteur (weiß noch jemand, was ein Metteur war?).

Das Faszinierende dabei ist, dass Tergit durchgehend über die fast 380 Seiten fast ausschließlich Dialoge einsetzt. Dabei trifft sie das Vokabular und die Sprechweise der diversen Typen und Charaktere punktgenau -- das lernt man wohl bei Gerichtsverhandlungen, aber man muss auch ein Ohr dafür haben, und das hatte sie. Dass es bei diesem Endlosgerede manchmal zu Längen kommt, ist klar, macht aber nichts. Es dauert ein bisschen, bis man die Fäden beieinander hat, aber ab dann läuft man die Strecke mit und genießt, wie genau man fast die Stimmen hört. Die Trauerrede für die an Tuberkolose gestorbene zwölfjährige Tochter einer Kollegin wird in voller Länge wiedergegeben, man weint am Ende fast mit -- merkt aber dann zunehmend, dass der Redner, der kurz zuvor im Zuge der Modernisierung der "Rundschau" gefeuerte altgediente Redakteur Miermann (einer der beiden Redaktionskollegen, denen Tergit ein Denkmal gesetzt hat) hier gleichzeitig sein eigenes Testament verliest. Denn kurz darauf fällt er auf der Straße tot um, und obwohl er nie aktiv religiös war, fallen ihm als letzte Worte ein: "Schmah isroel, adonoi elohenu adonoi echod." Und man möchte die Figuren, die sich dann auf seiner Beerdigung in seinem Licht sonnen, mit dem Waschlappen erschlagen. -- Tergit selbst hatte wohl ein wenig Skrupel wegen der Häufung jüdisch klingender Namen in dem Roman, aber die Lektorin überzeugte sie davon, daran nichts zu ändern, und ich denke, sie hatte recht. Tergit dürfte ohnehin gewusst haben, wovon sie sprach. Ihr wirklicher Name war Elise Hirschmann, sie schrieb auch für die "Vossische Zeitung" und die "Weltbühne" und landete nach einem ihrer Prozessberichte auf der Gegnerliste der Nazis. 1933 überfiel die SA ihre Wohnung. Sie ging mit Mann und Sohn dann zunächst ins Versteck, später ins Exil.

Verblüffend ist die Radikalität, mit der Tergit gegen Ende des Romans alles, aber wirklich alles, zu Bruch gehen lässt. Und das alles ist (fast) immer logisch und der Wirklichkeit abgelauscht. Meine Top-Bücher, die diese Zeit wiedergeben, waren und sind bis jetzt Erich Kästners "Fabian" (ich empfehle die rekonstruierte Originalfassung, die vor ein oder zwei Jahren unter dem von Kästner ursprünglich vorgesehenen Titel "Der Gang vor die Hunde" erschienen ist), und Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun?". Zukünftig wird Gabriele Tergits Roman bei mir in derselben Reihe stehen, und ich werde ihn nicht zum letzten Mal gelesen haben.



 (Dieser Post erschien zuerst in manafonistas.de)

Saturday, March 20, 2021

Chemtrails

 

Seit ungefähr zehn Jahren rätselt die Popwelt, was sie ist: eine Kunstfigur oder ein real existierendes Wesen. Wenn jemand sein Pseudonym aus einem amerikanischen Autoklassiker (Ford Del Rey) ableitet und von einer Schauspielerin (Lana Turner), von der niemand so genau sagen könnte, ob sie mehr Schauspielerin oder mehr Pin-Up-Model war -- kann so jemand real sein? Um so schwieriger wird die Angelegenheit, wenn man liest, dass dieses halb irreale Wesen sehr konkrete Meinungen hat und -- noch schlimmer -- sie auch vertritt.

Sicher ist, dass dieses Wesen Tonträger besingt. Und wer sich einen Albumtitel wie Chemtrails Over the Country Club einfallen lässt, hat meine Sympathie sicher. Das Album ist erstaunlich zurückgenommen -- kaum Schlagzeug, sparsame Instrumentierung, knarzende Gitarrensaiten, schwere Klavierakkorde, einige seltsame Klangeffekte, dazu empfängt einen gleich im ersten Stück ein eigenwillig gequetschter Kopfstimmengesang. Ich habe die Platte erstmals gestern spätnachts im Kopfhörer gehört, und ich war sofort drin. Lana Del Rey ist sicherer als jemals vorher in dem, was sie macht, ihre Melodien haben eine sofort erkennbare Handschrift, und selbst, wenn sie einen Song covert -- hier Joni Mitchells "For Free" vom Album Ladies Of the Canyon) --, macht sie ihn sofort zu ihrem eigenen. Als würde sie selbst im Laurel Canyon wohnen.

"Yosemite" ist mein Favorit, aber alles auf diesem Album ist relativ.

Was also nun, Kunst oder real? Das Rätsel bleibt ungelöst. Gut so.

Friday, March 12, 2021

Let Me Tell You What I Mean

 


Vor fast auf den Tag genau drei Jahren habe ich auf Joan Didions "South and West" hingewiesen. Das Buch ist heute noch so empfehlenswert wie damals.

Nun liegt ein neues Werk von ihr vor, ein Essayband, der zwölf durchweg bereits veröffentlichte Beiträge aus den Jahren zwischen 1968 und 2000 versammelt. An Werke wie das erwähnte "South and West", in dem es um die Südstaaten geht, oder "Slouching Towards Bethlehem", das auf eine desillusionierende Weise die Hippiekultur San Franciscos zerlegt, kommt "Let Me Tell You What I Mean" leider nicht heran. Dem Buch fehlt der rote Faden, manche der Essays sind für mein Gefühl schlicht langweilig, ließen mich mit der Frage "Warum erzählt sie mir das?" zurück, und ich glaube, dass sie das manchmal auch selbst nicht weiß. Didions Schreibstil ist nicht einfach, ihre in Teilen sehr langfädige und zerfahrene Erzählweise macht den Einstieg nicht leichter, man muss schon einige Konzentration aufbringen, um nicht aus dem Text zu fallen. Mir ist manches auch zu selbstreflektierend, etwa "Why I Write" -- ja mein Gott, täte sie's nicht, würden wir halt etwas anderes lesen, und die Welt würde sich noch genau so drehen.

Interessant wird die Lektüre aber dann, wenn sie einen Anknüpfungspunkt an eigene Interessen bietet oder satirisch, ironisch oder einfach witzig ist. Letzteres ist eindeutig nicht Didions Stärke, es kommt aber vor. Ihre Story über Nancy Reagen ist so eine, oder "Some Women" über die Frauenfotos von Robert Mapplethorpe. Auch der Text über das Gefühl, das sich einstellt, wenn einen das College seiner Wahl ablehnt, ist leicht nachvollziehbar. Alles in allem aber ist mir das aber für ein Buch ein wenig zu dünn.

"Let Me Tell You What I Mean" schleppt ein 35 Seiten langes Vorwort mit sich herum, das so tun möchte, als sei dies ein unglaublich wichtiges Buch. Zudem steht am Ende des Buches der Hinweis, man habe das Buch in einer alten, wiederausgegrabenen Schrifttype namens "Didot" gesetzt (zwischen den Zeilen soll man wohl lesen: zu Ehren der Autorin). Die Schrift gehört offensichtlich zur klassischen Bodoni-Familie -- eigentlich eine schöne Buchschrift, aber sie darf nicht zu klein sein und braucht viel Luft um sich herum. Dafür hat dieses kleinformatige Büchlein aber zu wenig Platz, und so flimmern einem nach einer Weile die Augen.

Joan Didion bleibt aber, das sei klar gesagt, eine wichtige Stimme, wenn es um Entwicklung und Zustand der USA geht. Sie hat da einen sehr scharfen, sezierenden Blick. Zeit, einmal wieder in "Slouching Towards Bethlehem", "South and West" oder "The White Album" hineinzuschauen.

Friday, March 5, 2021

Die Maus

 


Seit mindestens dreißig Jahren begleitet mich diese Gute ...

Herzlichen Glückwunsch zum 50. Geburtstag!

Tuesday, February 23, 2021

Pretend It's a City

 


 

Manchmal lohnt sich Netflix ja doch. Ohne wäre mir beispielsweise Fran Lebowitz entgangen, und das wäre schade gewesen. Dabei liegt seit Monaten ein Buch von ihr aus dem Bestand meiner Liebsten auf dem "Noch-zu-lesen"-Stapel.

Wer sie nicht kennt: Fran Lebowitz ist eine jüdisch-lesbische New Yorker Essayistin und Romanautorin, gelegentlich trat sie auch als Richterin in TV-Courtshows in Erscheinung. Ihre Karriere begann sie als Mitarbeiterin von Andy Warhols Magazin Interview. Mit Warhol selbst kam sie nicht klar, doch das hat ihrer weiteren Karriere nicht geschadet. Diese Frau lebt nicht nur in New York, sie ist New York. Und genau das zeigt diese Netflix-Serie, die von Martin Scorsese aufs Gleis gesetzt wurde. Teils vor Publikum, teils im Gespräch mit jeweils nur einem Gegenüber, auf großer Bühne, in einem Club, in einer Bibliothek, ergänzt um diverse Ausschnitte aus verschiedenen Talkshows, erzählt Fran Lebowitz von ihrem New York. Immer redet sie klare Kante, immer schlagfertig, und nie verfehlt sie eine Pointe. Die sieben jeweils 30-minütigen Teile behandeln

  • New York
  • Cultural Affairs
  • Metropolitan Transit (über die New Yorker Subway)
  • Board of Estimate
  • Department of Sports & Health
  • Hall of Records
  • Library Services

Dazwischen wandert Fran Lebowitz durch Manhattan. Da packt einen die Sehnsucht, die Pest möge endlich von uns genommen werden -- Pretend It's a City wurde noch vor Covid gedreht. Nach einer Weile merkt man, dass es weitgehend immer dieselben Bilder sind, aber das schadet nichts. Außerdem spaziert sie sie in einem riesigen Modell-New York umher. Das alles ist hoch unterhaltsam, manchmal allerdings schwer zu verfolgen, denn Fran spricht in einem Höllentempo. Schlicht nervtötend nach einer Weile ist Scorsese, der sich deutlich zu oft selbst ins Bild setzt und vor allem jeden, aber auch wirklich jeden Satz von Fran ausgiebig belacht, idealerweise schon, bevor sie ihn zu Ende gesprochen hat. Irgendwas ist ja immer.

Um auf die gute alte Würfelbewertung aus dem Gong zurückzugreifen:

Und jetzt werde ich mich um das Buch kümmern.

 

 

 

Friday, January 15, 2021

(AT 08) Asmus Tietchens: Musik im Schatten

 

Weiter in der Asmus-Tietchens-Chronologie: Irgendwann 1982, zwischen den Sky-LPs Spät-Europa und In die Nacht, erschien auf dem amerikanischen Cassettenlabel Aeon die Musik im Schatten. Die Auflage ist nicht bekannt; mein Tipp: nicht mehr als zehn. Mit etwas gutem Willen kann man das Produkt mit Musik aus der Grauzone (1981) und Musik an der Grenze (1982), beide ebenfalls Cassettenproduktionen, als Teil einer Werkgruppe auffassen.

Die fünf Tracks sind harte elektronische Kost, hervorgebracht auf dem Moog Sonic Six, gelegentlich mit kurzen, durchweg durch den Synthesizer und den Filteraltar gedrehten Sprachsamples erweitert. Verständlich ist dabei nur das Wort "selbst", zu hören in dem Stück "Du darfst", das wohl nach der gleichnamigen Margarinemarke benannt ist und ähnlich glitschig klingt. Alle fünf Stücke sind akustisch bewusst aufdringlich und schrill gehalten, es gibt kaum Pads, kaum Ruhepunkte und nur wenige angedeutete Melodien. In "Nosferatu" hören wir elektronisch imitierte Mickymaus-Stimmen, die ein wenig an "Stressmen" vom Biotop-Album erinnern. Tietchens-typisch ist aber auch auf dieser Einspielung der ökonomische Umgang mit dem Material -- nie sind es mehr als vier Schallquellen gleichzeitig, die man hört. Deswegen konnte Tietchens auch immer auf die Möglichkeiten des programmierbaren Mischpultes verzichten, das in Okko Bekkers Audiplex-Studio vorhanden war.

Es ist kein Vergnügen, sich diese Cassette anzuhören; auf mich wirkt die Einspielung "zusammengehauen" und nicht wirklich interessant. Im Gesamtwerk Tietchens' wird man die Musik im Schatten wohl als entbehrlich ansehen dürfen.




Musik im Schatten
Aeon AE 001, USA 1982
Wiederveröffentlicht auf Auricle Music AMC 34, GB 1988.