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Tuesday, May 16, 2023

Radio 1


 

Was hätten wir in den 1970ern in der norddeutschen Tiefebene nur ohne sie gemacht, diese Stationen, die uns frische Musik aus dem Äther ins Röhrenradio bliesen: das englische Programm von Radio Luxembourg ("The Station of Your Stars"), BFBS, Radio Caroline, Radio Veronica, Radio North Sea International -- die letzteren drei Piratensender, die von Schiffen in der Nordsee sendeten. Über sie gab es gelegentlich Reportagen im "Stern", in der "HörZu" oder in Musikmagazinen, meist unter Überschriften wie "Bei Sturm wackelt der Plattenspieler" oder "Die DJs müssen seefest sein". Selbstverständlich dachten wir damals, die DJs tricksten die Behörden aus, indem ihre Dampfer außerhalb der Dreimeilenzone ankerten und sie selbst säßen wirklich an Bord dieser Schiffe. Die Vorstellung hatte etwas wunderbar Romantisches.

Aber nein, in Wirklichkeit waren an Bord nur die Sendeanlagen; die Shows wurden in Studios in Hilversum oder London hergestellt und per Tonband geliefert. An Bord der Schiffe saßen nur ein oder zwei Techniker, für die das ein schrecklich langweiliger Job gewesen sein muss. Jede Woche wurden sie per Schiff mit Lebensmitteln, neuen Tonbändern und ein paar Pornoheften versorgt. Selbst das englische Programm von Radio Luxembourg, das natürlich kein Piratenprogramm war, wurde in London aufgezeichnet und täglich per Sportflugzeug nach Luxemburg geflogen. Deren Programmansage war mir als ungefähr 13-jährigem Schüler mit durchschnittlichem Schulenglisch immer ein Rätsel, weil ich deren "Two-O-Eight" (die Frequenz, 208 Meter) stets als "two or late" misshörte und mir keinen Reim darauf machen konnte.

Die BBC war oft gegen ihren Willen an den Piratensendungen beteiligt. Um nämlich für die Hörer attraktiver zu sein, hatten einige dieser Sender die Idee, auch Nachrichten ins Programm zu nehmen. Da saß dann wirklich eine Art Redakteur an Bord, hörte zur vollen Stunde die Nachrichten der BBC ab, schrieb sie ein wenig um und las sie zur halben Stunde über den eigenen Sender. Die BBC testete das gelegentlich, indem sie eine falsche Zahl in ihre Nachrichten einbaute -- die dann prompt von den Piraten nachgeplappert wurde.

Der Hauptärger in den 1960er Jahren bestand allerdings darin, dass die BBC nur drei Programmsparten anbot: Leichte Musik, Ernste Musik und Wort. Das Hörerpublikum, das gerne auch Rockmusik hören wollte, wanderte in Scharen zu den Piratensendern ab. Irgendwann wurde das der BBC zu dumm, und 1967 beschloss sie die Gründung von




Mit neuer Gesetzgebung konnten zumindest die Piratenstationen, die sich in leerstehenden Militärgebäuden in der Themsemündung niedergelassen hatten, gestoppt werden. Die Sendeschiffe außerhalb der Dreimeilenzone nicht, aber die BBC hatte die klare Ansage gemacht, deren Hörer zur BBC zurückzuholen -- und sie warb deren DJs ab. Und so begann die streckenweise recht abenteuerliche Geschichte von Radio 1.

Die kann man jetzt nachlesen; Robert Sellers hat sie aufgeschrieben. Da liest man erstaunliche Dinge, zum Beispiel die Schwierigkeiten der DJs, sich mit den Gewohnheiten der BBC anzufreunden -- freies Reden gab es nicht, Texte hatten vom Manuskript abgelesen zu werden, der Producer teilte Sprechzeiten zwischen den Musikstücken zu (meist genau 30 Sekunden), und die Sprecher der BBC hatten Schlips und Dinnerjacket zu tragen (Frauen waren eh eine seltene Spezies im Funkhaus). Weil es noch keine Hausausweise gab, scheiterten die manchmal wild aussehenden DJs (viele, etwa John Peel, werden im Buch portraitiert) immer mal wieder am Pförtner, zumal die Sendungen nicht aus dem Hauptgebäude der BBC kamen, sondern Radio 1 ein eigenes Gebäude hatte, das Egton House. Nach einer Weile wurden die DJs zu Stars und Superstars, das begriffen dann auch die Pförtner. 

Die Musikergewerkschaft kämpfte mit harten Bandagen: Sie nahm lange Zeit nicht zur Kenntnis, dass die Hörer die Platten der Rolling Stones oder der Beatles hören wollten -- nicht die vom BBC-Orchester gespielten Coverversionen, worauf die Gewerkschaft aber bestand. Überhaupt sahen sie Schallplatten als natürliche Feinde der von ihnen vertretenen Musiker an, und so gab es endlose Auseinandersetzungen um die sogenannte "needle time", die Zeitfenster also, in denen Platten gesendet werden durften. Irgendwann konnte man der Gewerkschaft klarmachen, dass auch Platten von Musikern eingespielt wurden, nicht von irgendwelchen Geistern.

Man staunt darüber, dass Radio 1, obwohl es sehr schnell das beliebteste BBC-Programm wurde, bis 1993 nur in mono über die Mittelwelle zu empfangen war (was mir insofern recht war, als man damit Radio 1 auch in Hamburg hören konnte, wenn die Atmosphäre nicht allzu verknistert war). Erst dann schaufelte die BBC etliche un- oder anders genutzte UKW-Frequenzen frei und schaltete Radio 1 auf. Erst 1993 gab es die ersten Sendungen von CDs in Stereo. Auch war bis 1990 strikt um 2 Uhr nachts Sendeschluss. Es musste erst die Berichterstattung über den Golfkrieg kommen. Die sollte rund um die Uhr laufen, und das behielt man nach dem Ende des Krieges klammheimlich bei. Die Schicht von 4 bis 6 Uhr morgens galt lange Zeit als "graveyard shift", bis die Hörerforschung dahinterkam, dass selbst um diese Zeit ein sehr buntes Hörerspektrum erreicht wurde, allerdings andere Hörer als später am Tag oder am Abend.

Ein interessantes Buch, wenn man sich ein bisschen für Radiogeschichte interessiert. Gelegentlich ein bisschen zu sehr auf Anekdoten hin geschrieben, aber das macht wenig; unterhaltsam ist es eh.

Robert Sellers:
The Remarkable Tale of Radio 1
The History of the Nation's Favourite Station 1967-95
Omnibus Press, ISBN 9-781913-17212-1

 

Monday, May 15, 2023

Wiederentdeckt

Der Komponist Johannes Brahms, wäre ihm nicht der Leberkrebs dazwischengekommen, hätte vor einigen Tagen seinen 190. Geburtstag feiern können. Was mich daran erinnerte, dass Michael Naura und Wolfgang Schlüter ein Stück eingespielt haben, das sich lose improvisierend an eines der "Abendlieder" des Geburtstagskindes anlehnt.

Country Children heißt dieses Album, aufgenommen 1977 von Dietram Köster bei Radio Bremen, erschienen 1980 auf dem wohl eigens für das Trio Naura/Schlüter/Rühmkorf geschaffene Imprint-Label ECM-SP. Die LP erlebte nur eine einzige Auflage; auf eine CD oder in einen Streamingdienst hat es die Platte nie geschafft -- vielleicht, weil Manfred Eicher an der Produktion nicht selbst beteiligt war.

Michael Naura ist nicht Chick Corea und Wolfgang Schlüter ist nicht Gary Burton. Genau das spielen die beiden hier aus. Schlüter spielt Vibraphon und gelegentlich Marimba, er dreht Pirouetten und riskiert gelegentlich gewagte Sprünge auf dem Fundament, das Naura mit ruhigen, meist fließenden Klavierakkorden bildet. Fast alle Stücke könnte man sich auch als Begleitung für Peter Rühmkorfs von ihm selbst gesprochene Gedichte vorstellen, aber auf diesem Album ist er nicht dabei. "Ballade für eine Silberhochzeit" legt die Stimmung fest, die das Album in wesentlichen durchhält. Ein paar atonale Einwürfe überraschen in "Schlafen", "Rosemary's Baby" (die einzige Fremdkomposition) bringt ein paar klangtechnische Spielereien, die in ihrer Verwischtheit an den gleichnamigen Film denken lassen. Der Titeltrack "Country Children" ist dem "Abendlied" wie aus dem Gesicht geschnitten, "Call" erinnert an ein früheres Album des Michael Naura Quartetts von 1971.

Wer Crystal Silence mochte, wird Country Children lieben. Zeit für ein Remaster!




Thursday, May 4, 2023

Kastanienallee

Zufällig bin ich über einen sehr lesenswerten Artikel gestolpert, hier. Sofort war die Erinnerung wieder da an Silvester 1987/88, Prenzlauer Berg, Kastanienallee, mit meinen damaligen Bekannten, die zu den "subversiven" gehörten. Musiker, deren "Westkontakt" ich war, der Batterien für das Yamaha-Echogerät und derlei Zeugs besorgen konnte. Nachmittags am Grenzübergang gab es schon kaum noch ernste Kontrollen, die Flasche Sekt ließ der Grenzer unbeanstandet. Später ein Bier im Prater. Abends Silvesterparty. Da wurde schon darüber debattiert, was wohl passieren werde, wenn "das Kapital" käme. Am nächsten Morgen sind wir dann mit Kater durch die Eberswalder gelatscht. Ich weiß nicht mehr, ob ich es gesagt oder nur gedacht habe, dass das Monstrum da vorne die Straße wohl nicht mehr lange versperren werde. Man musste kein Hellseher sein, um das zu spüren. Schade, dass sich die Kontakte später alle im Sand verlaufen haben.

Die im Artikel erwähnte Ausstellung in Berlin ("Voll das Leben") ist mit Sicherheit sehenswert. Wie auch dieser Fotoband von Harald Hauswald.