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Tuesday, May 28, 2024

Unter Kraftwerks Einfluss

(Scroll down for English version)

 

Vor einigen Wochen habe ich in einer "Elektro Beats"-Sendung des RBB im Gespräch mit Olaf Zimmermann gesagt, der Einfluss Kraftwerks auf die amerikanische Musikszene werde in Deutschland gern ein bisschen überschätzt. Das führte zu einem spürbar aufgeregten Protest eines Hörers und einem daraus folgenden kleinen Email-Pingpong. Meine (leicht nachbearbeitete) Antwort auf seine letzte Message stelle ich nun auch hier in den Blog, just for fun -- vielleicht interessiert sie ja jemanden.

Lieber M., ich bitte Dich, bei dem zu bleiben, was ich in der Sendung gesagt habe: dass man in Deutschland den Einfluss Kraftwerks auf die amerikanische Musikszene gern ein bisschen überschätzt. Nicht mehr und nicht weniger.

Wenn Du ein paar Jahre hier in den USA lebst, dann merkst Du, dass es hier keine Rolle spielt, was in Deutschland passiert oder was Deutschland zu irgendeiner Angelegenheit meint. Wie oft lese ich in der deutschen Presse oder in deutschen FB-Kommentaren, "das Ausland" würde sich mal wieder über diese bekloppten Deutschen kaputtlachen oder nur noch den Kopf schütteln -- die Wahrheit ist aber, dass Deutschland in der New York Times mit viel Glück auf Seite 5 in einer viertel Randspalte vorkommt. Wenn Du hier irgendwen auf der Straße fragst, wer der deutsche Bundeskanzler ist, wird das der eine oder andere mal gehört haben, aber wer die deutsche Außenministerin ist, weiß hier kein Mensch. Mit Kraftwerk ist das nicht anders. Eher kennen die Leute Giorgio Moroder oder Hans Zimmer, aber die leben ja hier.

Dieser Spruch "More influential than the Beatles", auf den Du mich hinweist, ist erstens uralt, stammt, glaube ich, aus der Los Angeles Times, und war zweitens schon immer unsinnig. Woran wird denn das gemessen? Der Spruch vergleicht in geradezu klassischer Weise Äpfel mit Birnen, ohne dass es irgendeine empirische Möglichkeit gibt, den Einfluss zu messen. Was, konkret, soll es denn gewesen sein, das Kraftwerk in die amerikanische Musikszene eingebracht hat, das es nicht zumindest im Entwicklungsstadium hier schon gab? Also lass uns das mal unter PR abheften.

Aber wenn Du mir nicht glaubst, dann lass mich auf zwei Bücher hinweisen, die Du vielleicht glaubwürdiger findest. Das erste ist von Will Hermes und heißt "Love Goes to Buildings on Fire" (ich nehme an, Du kannst den Titel einordnen). 

 

Hermes schildert die Entwicklung der New Yorker Musikszene vom Punk bis zum HipHop, und das sehr kompetent, detailliert und liebevoll. Kraftwerk kommt darin genau zweimal vor, die Nennungen beziehen sich auf Trans Europe Express, und auch da nur auf das Titelstück, nicht auf den Rest des Albums. Der DJ Afrika Bambaataa hat das Stück für sich entdeckt, weil es sich exzellent in das einfügen ließ, was er und andere bereits machten (die Wurzeln dessen habe ich Dir früher schon genannt -- u.a. den Motown- und Stax-Soul und den elektrischen Miles Davis). Dadurch wurde das Stück eine Zeitlang zu einer Art "Dance Music Template" bei New Yorker DJs, die das Stück, besonders den "Metall auf Metall"-Teil immer wieder spielten. Grandmaster Flash zum Beispiel hat das Stück fest in seine Shows eingebaut, aber unverändert und ohne DJ-technisch irgendwas damit anzustellen. Von da aus ging es dann u.a. nach Detroit. Blondie, die Du erwähnst, haben es live auch eine Zeitlang in ihre Shows eingebaut als eine Art Teppich, auf dem sie eigene Sachen spielten.

Das war's aber dann im wesentlichen. Es haben sich einfach Wege zu einem bestimmten Zeitpunkt überkreuzt. Kraftwerk ist danach seinen Weg weitergegangen, und die HipHop/House-Szenen sind ihren Weg ebenso weitergegangen. Die letztere war dabei vorrangig angetrieben durch die ständigen neuen Produkte der Musikelektronikindustrie. Schon Kraftwerks auf TEE folgendes Mensch-Maschine-Album war ja ein völlig anderes Ding, auch wenn die Kraftwerker so clever waren, die Platte von Leanard Jackson, dem Assistenten des alten Motown-Veteranen Norman Whitfield, abmischen zu lassen (wobei ich Jacksons Einfluss nicht wirklich heraushöre).

Und nochmal: Ich rede von den USA, nicht von England -- da sah es anders aus mit Kraftwerks Einfluss.

Das zweite Buch hast Du ja vielleicht schon selbst entdeckt, das Kraftwerk-Buch von Carsten Brocker


Das ist eine Dissertation, sie zu lesen ist harte Arbeit. Lohnt sich aber in unserem Zusammenhang, denn Carsten ist selbst Musiker (er spielt bei Alphaville) und analysiert gründlich und bis in kleinste Details hinein, was von Kraftwerk sowohl technisch wie musikalisch und zeitlich in die House- und HipHop-Szene eingegangen ist. Er kommt nach vielen Seiten und Exkursen letztlich zu dem selben Schluss wie ich, nämlich dass das alles so gewaltig nicht war.

Jetzt kannst Du Dir noch den Spaß gönnen, den ich mir gerade gegönnt habe, nämlich mal das Web zu durchforsten, welches eigentlich die meistgesampelten Platten in House und HipHop sind. So leid es mir tut, Kraftwerk taucht erst unter ferner liefen auf.

Und nun nochmal, damit es klar ist: Das alles heißt nicht, das Kraftwerk hier in den USA nicht seine Fans hat. Ich würde auch jedem, der sie noch nicht gesehen hat, empfehlen, sie sich nicht entgehen zu lassen. Kraftwerk ist ein absolut solitäres Projekt. Aber was man wirklich von ihnen hier in Erinnerung hat, sind die Roboter in den roten Hemden und schwarzen Krawatten. Die bekommen bei ihrem Erscheinen auf der Bühne noch immer mehr Beifall als die eigentlichen Musiker.

Damit dann auch schöne Grüße an den von Dir wegen seiner Bundestagsrede erwähnten König Charles, der Kraftwerk offenkundig auch kennt. Aber klar, er ist ja Engländer.

 

 

Under the Influence of Kraftwerk

 

A few weeks ago, in an "Elektro Beats" broadcast on RBB, I said in a conversation with Olaf Zimmermann that people in Germany tend to overestimate Kraftwerk's influence on the American music scene. This led to a noticeably agitated protest from a listener and a small email ping-pong that followed. I'm now putting my (slightly edited) answer to his last message here in my blog, just for fun -- maybe somebody is interested in it.

Dear M., I ask you to stick to what I said in the broadcast: that people in Germany tend to overestimate Kraftwerk's influence on the American music scene. Nothing more, nothing less.

If you live here in the U.S. for a few years, you'll notice that it doesn't matter here what happens in Germany or what Germany thinks about any issue. How often do I read in the German press or in German FB comments that "foreign countries" are laughing their heads off at these crazy Germans or are just shaking their heads -- but the truth is that with a lot of luck, Germany will appear in the New York Times on page 5 in a quarter of a column. If you ask anyone on the street who the German Chancellor is, one or two people might be able to name him, but no one here knows who the German Foreign Minister is. It's no different with Kraftwerk. People are more likely to know Giorgio Moroder or Hans Zimmer, but yes: These two live here.

This saying "More influential than the Beatles" that you're referring to is, firstly, ancient, I think it comes from the Los Angeles Times originally, and secondly, it has always been nonsense. How can you measure it? This phrase compares apples with oranges in a classic way, without there being any empirical way of measuring "influence". What exactly did Kraftwerk bring to the American music scene that wasn't already here, at least in development? So let's file that under public relation.

But if you don't believe me, let me point you to two books that you might find more credible. The first is by Will Hermes and is called "Love Goes to Buildings on Fire" (I assume you can place the title).

 

Hermes describes the development of the New York music scene from punk to hip hop very competently, in detail and with love. Kraftwerk appears exactly twice in it, the mentions refer to Trans Europe Express, and even then only to the title track, not to the rest of the album. DJ Afrika Bambaataa discovered the piece for himself because it fit in excellently with what he and others were already doing (I already told you the roots of this earlier: It included Motown and Stax soul as well as the electric Miles Davis). As a result, the piece became a kind of "dance music template" for a while for New York DJs, who played it over and over again, especially the "Metal on Metal" part. DJ Grandmaster Flash, for example, incorporated the piece into his shows, but unchanged and without doing anything with it in terms of DJing. From there it went to Detroit, among other places. Blondie, who you mentioned, also incorporated it into their shows live for a while as a kind of carpet on which they played their own stuff.

But that was essentially it. Paths simply crossed at a certain point in time. Kraftwerk then went on its way, and the hip hop/house scenes went on their way as well. The latter was primarily driven by the constant new products of the music electronics industry. Kraftwerk's Man Machine album, which followed TEE, was a completely different thing, even if the Kraftwerkers were clever enough to have the record mixed by Leanard Jackson, the assistant of the old Motown veteran Norman Whitfield (although I don't really hear Jackson's influence).

And again: I'm talking about the USA, not England -- things were very different there with Kraftwerk's influence.

You may have already discovered the second book yourself, the Kraftwerk book by Carsten Brocker.


This is a doctoral thesis, reading it is hard work. But it's worth it in our context, because Carsten is a musician himself (he plays with Alphaville) and analyzes thoroughly and in the smallest detail what Kraftwerk has brought to the house and hip hop scene, both technically and musically as well as in terms of time. After many pages and digressions, he ultimately comes to the same conclusion as me, namely that the influence wasn't all that big.

Now, if you want to, you can treat yourself to the fun that I just treated myself to: to search the web to find out which are actually the most sampled records in house and hip hop. I'm sorry, Kraftwerk only appears in the background.

And now again, just to be clear: All of this doesn't mean that Kraftwerk doesn't have fans here in the U.S. I would also recommend that anyone who hasn't seen them yet shouldn't miss them. Kraftwerk was and still is an absolutely unique project. But what people really remember about them here are the robots in the red shirts and black ties. When they appear on stage, they still get more applause than the actual musicians.

And now best wishes to King Charles, whom you mentioned because of his speech to the Bundestag. He obviously knows Kraftwerk too. But of course, he's English.



Saturday, May 18, 2024

Kellertänzer

Die Maskentänzer. Lavinia Schulz und Walter Holdt, ein expressionistisches Hamburger Künstlerpaar, das ab etwa 1920 den Ausdruckstanz neu definierte und sich im Sommer 1924 aus bitterster Not unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen selbst ins Jenseits beförderte.


Hinterlassen haben die beiden um die 14 Tanzkostüme, die zunächst mit allerlei anderen Hinterlassenschaften in zwei großen Transportkisten (für "dringlich zu beförderndes Artistengepäck") auf dem Dachboden des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe gelandet und dort jahrelang vergessen worden sind. Heute, nach ihrer zufälligen Wiederentdeckung in den 1980er Jahren, gehören sie zu den beeindruckendsten Schätzen des Museums. Die Originale sind wunderschön restauriert, transportfähig sind sie aber nicht mehr, so dass letztes Jahr Repliken dieser Kostüme zur Biennale nach Venedig geschickt wurden, wo sie einiges Aufsehen erregten.

Seit vielen Jahren geistert mir dieses Paar durch den Kopf. Ein Online-Artikel von mir über die beiden stammt von 2010, mein Radiofeature von 2016 im Deutschlandfunk steht ebenfalls noch online. Ich will die Geschichte der beiden hier nicht wiederholen -- und brauche es auch nicht, denn es gibt sie jetzt als Roman. Dessen Autor, Nils Jockel, könnte kompetenter nicht sein.

Foto: Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg

Jockel, langjähriger Kunstvermittler und Kurator, ist nämlich derjenige, der seinerzeit zusammen mit einer Praktikantin diese Tanzmasken auf dem Dachboden des Museums wiederentdeckte, und seitdem lässt auch ihn dieses Paar nicht mehr los -- um so mehr, als er indirekt durch die Falke-Schwestern auch familiäre Beziehungen zu der Geschichte hat (in Hamburg weiß man noch, wer sie waren).

Der Roman "Kellertänzer" bearbeitet sein Thema auf drei Ebenen: Zum einen ist dies die tatsächliche Geschichte Lavinia Schulz' und Walter Holdts, soweit sie sich rekonstruieren lässt. Zum zweiten erscheint auf der Biennale Jockel in Gestalt seines Alter Egos Nick Lainwander selbst in der Handlung und schildert -- zum Teil in Gesprächen mit einem Freund namens Daniel -- nicht nur den Fund der Tanzkostüme, sondern auch, was danach mit ihnen passiert oder eben nicht passiert ist. Er macht den Leser dabei mit einigen der Folgen bekannt, die seine Obsession für seine Beziehung zu Hannah hat. Und genau daraus resultiert die dritte Ebene, und die ist ausgesprochen clever: Da denkt nämlich sozusagen der Roman über sich selbst nach. Es geht um die Frage, wie weit man eigentlich real existiert habende Personen aus künstlerischen Gründen fiktionalisieren darf, wenn man nur Bruchstücke über ihr Schicksal kennt.

Damit sticht Jockel geradezu in ein Wespennest, denn fiktionalisierte Geschichten, Serien und Verfilmungen der Lebensgeschichten realer Personen, sogenannte Biopics, sind seit geraumer Zeit schwer in Mode, und ein Ende ist nicht abzusehen. Der Roman beantwortet die Frage nicht, aber man nimmt sie mit.

"Kellertänzer" ist gut lesbar geschrieben und führt den Leser tief in die Lebenswirklichkeit nicht nur der Künstler, sondern auch der "normalen" Menschen jener Jahre hinein. Jockel macht uns bekannt mit etlichen damals prominenten und teils heute noch klingenden Namen und vermittelt ein eindringliches Bild der zum Teil unfassbar elenden Lebenswelt der Menschen, die in der frühen Weimarer Republik nicht auf der Sonnenseite standen. Ich selbst hätte mir die Persönlichkeiten der Charaktere in einigen Punkten etwas anders vorgestellt, aber das schadet gar nichts, denn genau da stellt sich die Frage nach der Fiktionalisierung.

Wenn Nils Jockel am Ende des obenerwähnten Radiofeatures sagt, er sei noch immer nicht durch mit der Geschichte, dann weiß man nach der Lektüre dieses Buches, weshalb. Man legt diesen Roman nicht einfach aus der Hand. Er hallt noch tagelang nach.


Nils Jockel:
Kellertänzer
KJM Buchverlag 2024, 310 Seiten
ISBN 978-3-96194-231-2, 26 €

Sunday, May 5, 2024

Nichtsdestotrotz

Einer muss es ja tun. Das neue Album der Pet Shop Boys vorstellen nämlich. Na gut also, hier ist es.


Das fällt mir nicht mal schwer, es ist nämlich gut. Das hätte nach vier Jahren Covid-Pause seit Hotspot auch anders ausgehen können, aber es hat funktioniert. Das letzte Album, das die Fans noch richtig in zwei Lager gespalten hat, war Super, und das ist immerhin schon acht Jahre her. Jetzt bei Nonetheless, ihrem, wenn ich richtig zähle, fünfzehnten Album, mit dem sie wieder zu Parlophone zurückgekehrt sind, wird das kaum passieren.

Das Album ist solide Popkost mit sofort erkennbarem Sound. Neil Tennant wird in ein paar Wochen 70, man hört es seiner Stimme nicht an, inhaltlich hat er sich in die Rolle des Elder Statesman hineingefunden, und skandalfrei war die Band immer. Chris Lowe findet Melodien und Sounds, die ... ja, fast möchte man mit Bert Kaempfert sagen: die nicht stören . Der Produzent ist James Ford, dem es hier gelingt, orchestrale Klänge fast unauffällig ins Klangbild einzuschmuggeln, insgesamt aber sorgen sie für einen leichteren Sound als man ihn von früheren PSB-Platten kennt. Dass die Jungs auch mal Kraftwerk gehört haben müssen, kommt gelegentlich durch, etwa in Gestalt der "Zap"-Percussion in "Feel", aber das wird man als freundlichen Gruß ansehen dürfen. Und auch, wenn man manche Melodien auf Nonetheless schon irgendwo so ähnlich gehört zu haben glaubt: Geklaut ist hier nichts. Tennant und Lowe müssen nichts mehr beweisen, sie machen einfach "ihr Ding", wie man in Hamburg sagen würde. Wer genauer wissen möchte, weshalb das funktioniert, sei auf das neulich ausgestrahlte BBC-Portrait hingewiesen.

Dass die beiden zeitweilig in Berlin leben, wird deutlich in dem einzigen Stück, das bei manchen ein wenig Kopfschütteln ausgelöst hat: "The Schlager Hit Parade". Das ist ein etwas seltsamer Track: Für eine Schlagerparodie ist er weder textlich noch musikalisch angriffig genug, für eine Charakterisierung deutschen Musikgeschmacks kommt er wiederum zu gemütlich dahergeschuckelt. Der wirkliche deutsche Schlager scheint mir inzwischen fast härter zu sein.

Nach wie vor fasziniert mich die Stilsicherheit, mit der das alles inszeniert wird, von den Fotos bis in die Typografie. Dass der erste Erfolg der PSB, "West End Girls", tatsächlich schon 40 Jahre auf dem Buckel hat, hört man ihm nicht an -- das Stück könnte fast unverändert auch heute veröffentlicht werden. "Es gibt im Pop keine Alterdiskriminierung mehr", sagte Neil neulich im Guardian. Was nicht heißen soll, dass die beiden keine Entwicklung durchgemacht hätten. Aber die Veränderungen in den Sounds und Arrangements sind subtil. Die "DeLuxe"-Edition kommt mit einer zweiten Scheibe, die das beweist:


Die heißt Furthermore und enthält vier Neueinspielungen alter Titel. Kann man machen, muss man aber nicht. Die Tatsache, dass die Originale immer noch genauso gut funktionieren wie diese neuen Versionen, spricht genau für die Zeitlosigkeit der Stücke und ihrer Arrangements.

Wir sind gespannt auf Nummer 16.