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Tuesday, December 14, 2021

Literarisches Wimmelbild


Wimmelbilder kennt man: Zeichnungen, die umso mehr Details offenbaren, je länger man draufschaut. Wimmelbilder sind auch das Prinzip der meisten Film- oder TV-Serien: "Star Wars", "Batman" oder "Succession" führen zu immer detaillierteren Blickwinkeln auf Charaktere oder Sachverhalte. In der Literatur kennt man das Wimmelbildprinzip von Fortsetzungsromanen, sei es Enid Blytons "Abenteuer"-Serie oder sei es der immer weiter ins Detail gehende Blick auf die Figuren im Tolkienschen Kosmos. Letzthin hat Christoph Dallach weitgehend kommentarlos alle möglichen -- auch inkompatiblen oder einander widersprechenden -- Musikerstatements unter dem Rubrum "Krautrock" so zusammengefügt, dass sie doch eine kompakte Einheit bilden. Keine Meldung in den Fernsehnachrichten mehr, die nicht so gebaut ist, dass für morgen eine Fortsetzung möglich ist. Das Prinzip ist das der Selbstähnlichkeit des Apfelmännchens -- der Versuch, die Ordnung im Chaos zu sehen. Man wird durch ständig neue Ausschnittvergrößerungen aus Ausschnittvergrößerungen im Rahmen einer ständigen Wiederkehr des Immergleichen geführt.

Seit inzwischen nun auch bereits einiger Zeit findet man dieses Bauprinzip um bestimmte Jahreszahlen herum, die irgendeine "Schlüsselbedeutung" haben. Heinz Schilling schrieb über das Jahr 1517, Adam Zamoyski über 1815, Uwe Wittstock über den Januar 1933; Florian Illies hat das schon vor etlichen Jahren gemacht, als er die "Generation Golf" erfand. 2012 schrieb er ein Buch über das Jahr 1913 -- Tag für Tag, und auch das war ein Versuch, die diversen Ereignisse eines Jahres unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln. Und wenn man ein so exzellenter Schreiber ist wie Illies, dann wird aus einem solchen Flickenteppich wirklich eine lesenswerte Einheit. (Das Nachklappwerk "1913 -- Was ich unbedingt noch erzählen wollte" von 2018 war dagegen eher von der Sorte "Man merkt die Absicht und ist verstimmt".) 

Und jetzt gibt es "Liebe in Zeiten des Hasses". Hier geht es darum, in kurzen Abschnitten Schicksale, Lebenswege und Beziehungschaos etlicher durchweg bekannter Persönlichkeiten zwischen 1929 und 1939 thematisch zu vereinen, wobei das Buch im Prinzip nur eine Teilung kennt: Vor 1933 und nach 1933.

Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob das Buch eigentlich auch dann interessant wäre, wenn es darin nicht um wohlbekannte Größen wie Klaus und Erika Mann, Walter Benjamin, Gustaf Gründgens, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Bert Brecht samt Hofstaat, Hermann Hesse und viele, viele weitere ginge, sondern um Lieschen Müller und ihren kleinen, für die Weltgeschichte unbedeutenden Beziehungsstress. Könnte es sein, dass man hier einem wunderbar geschriebenen Namedropping auf den Leim geht? Ist das nicht die gehobene Variante der bunten Klatschblätter, die man beim Friseur liest? Zumal man sich beim Lesen zunehmend fragt, woher der werte Autor das alles eigentlich so genau wissen will und sich der Eindruck einstellt, dass da wohl oft nur zwei und zwei zusammengezählt worden ist. Dass eine unglaubliche Recherchearbeit in diesem Buch steckt, ist klar, die verwendete Literatur wird im Anhang auch genannt (und lädt in vielen Fällen zum Weiterlesen ein). Aber man weiß natürlich, dass nirgendwo so viel gelogen wird wie in Autobiografien und Tagebüchern, jedenfalls, wenn letztere von vornherein im Hinblick auf ihr Publikwerden nach dem Ableben ihres Verfassers entstanden sind.

Ernster wird das Buch im zweiten Teil. Da nämlich geht es nicht mehr vorrangig um scheiternde oder glückende Liebesbeziehungen, sondern nun werden diese zunehmend in den Kontext von Verfolgung, Exil und den nicht seltenen tödlichen Konsequenzen gestellt, und das ist dann eine andere Dimension. Da steht man vor den Trümmern so mancher Existenz. Und es wird einem klar, was für ein riesiger Unterschied es ist, ob man ein Land freiwillig verlässt oder ob das Wissen um das sonst mögliche Kaltgestelltwerden, den Knastaufenthalt oder gar den Tod dahintersteht.

Ein kleines Manko: Gelegentlich wird in diesem Buch auf veraltete Quellen zurückgegriffen. Der Tod Kurt Tucholskys etwa wird hier noch immer ausführlich als Selbstmord dargestellt; tatsächlich ist sich die neuere Forschung da aber gar nicht mehr so sicher -- wahrscheinlich war es doch eher der Unfallklassiker "Schlaftabletten und Alkohol". Erich Kästners tägliche Postkarten an seine Frau Mutter werden hier als klassische "Muttersöhnchen"-Beziehung geschildert. Dass das eine enge Beziehung war, darf man wohl annehmen, aber der Kästner-Biograf Klaus Kordon hat schon vor einigen Jahren eine nicht weniger einleuchtende These aufgestellt: dass nämlich Kästners Postkarten vorrangig den Zweck hatten, sich die Mutter vom Hals zu halten, indem er sie mit Informationen überflutete. -- Aber das sind Petitessen.

Irgendwie ahnt man schon, welcher Zeitraum als nächstes Wimmelbild kommen könnte. Und man ahnt, dass man wieder kopfüber hineinfallen wird.


(Dieser Post ist zuerst erschienen in manafonistas)

 

Saturday, December 4, 2021

Albums 2021

Albums:

 

1. Steely Dan: Northeast Corridor / Donald Fagen: The Nightfly Live
2. Lana Del Rey: Chemtrails Over The Country Club / Blue Banisters
3. Nick Cave & Warren Ellis: Carnage
4. Marc Johnson: Overpass
5. Mathias Eick: When We Leave
6. Can: Live in Stuttgart 1975
7. Floating Points, Pharoah Sanders & London Symphony Orchestra: Promises
8. Pittsburgh Symphony Orchestra, Manfred Honeck, cond.: Brahms: Symphony No. 4; MacMillan: Larghetto for Orchestra
9. Asmus Tietchens (Hematic Sunsets): Aroma Club Adieu
10. Daniel Lanois: Heavy Sun
11. András Schiff, Orchestra of the Age of Enlightenment: Brahms: Piano Concertos 1 & 2
12. Konstantin Semilakovs: Scriabin: Couleurs Sonores

 

Potential candidates that just didn't make it:

Balmorhea: The Wind
Bryan Ferry: Live At The Royal Albert Hall 2020
Moby: Reprise
Neil Young & Crazy Horse: Way Down In The Rust Bucket

 

Re-Issues:

1. Dave Pike Set: At Studio 2, March 11, 1971
2. Pet Shop Boys: Discovery -- Live In Rio 1994
3. Klaus Doldinger: The First 50 Years Of Passport
4. Gentle Fire: Explorations (1970-1973)

Not too many this year. But instead it was a year of re-discoveries:

 

Rediscovered:

January: 801 Live (1976) 
February: Cat Mother & The All Night Newsboys: The Street Giveth ... And The Street Taketh Away (1969)
March: Albert Mangelsdorff: Three Originals (The Wide Point, 1975; Trilogue, 1977; Montreux, 1980)
April: David Shea: Tower of Mirrors (1995) 
May: Hans Zimmer: The British Years (My Beautiful Laundrette, A World Apart u.a.) (2005)
June: Miles Davis: Big Fun (1974)
July: Hot Tuna: Hoppkorv (1976)
August: Ketil Bjørnstad, Bjorn Kjellemyr, Jon Christensen, Per Hillestad, Terje Rypdal: Water Stories (1993)
September: Hanns Dieter Hüsch: Abendlieder (1976)
October: Kraan: Live (1975)
November: Ougenweide: Herzsprung (2010)
December: The United States Of America: s/t (1968)

 

 

 

Wednesday, December 1, 2021

Zwischendurch ...

 mal wieder ein bisschen Klassik:



Das Pittsburgh Symphony Orchestra sollte mittlerweile zur Top-Riege amerikanischer Sinfonieorchester gezählt werden, es hat sich nur noch nicht überall herumgesprochen. Zu seinen früheren Chefdirigenten zählten André Previn, Lorin Maazel und Mariss Jansons, seit 2008/09 liegt die musikalische Leitung in den Händen des Österreichers Manfred Honeck. Orchester und Dirigent lieben sich offenkundig, gerade hat Honeck seinen Vertrag bis 2028/29 verlängert. Der Dirigent hat jahrelang in der Violasektion der Wiener Philharmoniker gespielt. Deren Klang hat er ebenso inhaliert wie den Interpretationsstil Carlos Kleibers, den er noch selbst erlebt hat. Und das hört man.

Brahms' Vierte ist die zwölfte Einspielung des PSO unter Honeck für das Reference-Label, das nicht aus Versehen so heißt. Nach Bruckners Neunter und Shostakowitschs Fünfter ist dies bereits die dritte Veröffentlichung, die mit einem Grammy bedacht worden ist.

Was kann man einem Schlachtross wie Brahms' Vierter noch abgewinnen? Sicherlich nichts sensationell Neues mehr, aber diese Liveaufnahme aus der Heinz Hall bietet eine energische Handschrift bei sehr großer instrumentaler Klarheit, insbesondere im Schlusssatz. Der dritte Satz heißt nicht nur "giocoso", sondern hat tatsächlich eine wahrnehmbare Spur Humor. Die Tonqualität ist außerordentlich gut, man kann im Kopfhörer praktisch jedem einzelnen Instrument folgen, trotzdem ist der Orchesterklang kompakt und zupackend. Das Publikum übrigens ist mäuschenstill, ich höre keinen einzigen Huster, aber das mag auch der Kunst des Tonmeisters zu verdanken sein (ich erinnere das aus etlichen Konzerten anders).

Das Larghetto for Orchestra des schottischen Komponisten James MacMillan war ein Auftragswerk des PSO anlässlich von Honecks zehnjährigem Jubiläum. Die CD enthält die Uraufführung von 2017. Ein wenig filmmusikartig ist das knapp 15-minütige Stück manchmal geraten, aber wenn weitere Orchester es übernehmen würden, hätte es gute Chancen, Samuel Barbers Adagio abzulösen.

Eine schöne Platte zum Jahresausklang.

 

(Dieser Post erschien zuerst in manafonistas.)