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Tuesday, May 16, 2023

Radio 1


 

Was hätten wir in den 1970ern in der norddeutschen Tiefebene nur ohne sie gemacht, diese Stationen, die uns frische Musik aus dem Äther ins Röhrenradio bliesen: das englische Programm von Radio Luxembourg ("The Station of Your Stars"), BFBS, Radio Caroline, Radio Veronica, Radio North Sea International -- die letzteren drei Piratensender, die von Schiffen in der Nordsee sendeten. Über sie gab es gelegentlich Reportagen im "Stern", in der "HörZu" oder in Musikmagazinen, meist unter Überschriften wie "Bei Sturm wackelt der Plattenspieler" oder "Die DJs müssen seefest sein". Selbstverständlich dachten wir damals, die DJs tricksten die Behörden aus, indem ihre Dampfer außerhalb der Dreimeilenzone ankerten und sie selbst säßen wirklich an Bord dieser Schiffe. Die Vorstellung hatte etwas wunderbar Romantisches.

Aber nein, in Wirklichkeit waren an Bord nur die Sendeanlagen; die Shows wurden in Studios in Hilversum oder London hergestellt und per Tonband geliefert. An Bord der Schiffe saßen nur ein oder zwei Techniker, für die das ein schrecklich langweiliger Job gewesen sein muss. Jede Woche wurden sie per Schiff mit Lebensmitteln, neuen Tonbändern und ein paar Pornoheften versorgt. Selbst das englische Programm von Radio Luxembourg, das natürlich kein Piratenprogramm war, wurde in London aufgezeichnet und täglich per Sportflugzeug nach Luxemburg geflogen. Deren Programmansage war mir als ungefähr 13-jährigem Schüler mit durchschnittlichem Schulenglisch immer ein Rätsel, weil ich deren "Two-O-Eight" (die Frequenz, 208 Meter) stets als "two or late" misshörte und mir keinen Reim darauf machen konnte.

Die BBC war oft gegen ihren Willen an den Piratensendungen beteiligt. Um nämlich für die Hörer attraktiver zu sein, hatten einige dieser Sender die Idee, auch Nachrichten ins Programm zu nehmen. Da saß dann wirklich eine Art Redakteur an Bord, hörte zur vollen Stunde die Nachrichten der BBC ab, schrieb sie ein wenig um und las sie zur halben Stunde über den eigenen Sender. Die BBC testete das gelegentlich, indem sie eine falsche Zahl in ihre Nachrichten einbaute -- die dann prompt von den Piraten nachgeplappert wurde.

Der Hauptärger in den 1960er Jahren bestand allerdings darin, dass die BBC nur drei Programmsparten anbot: Leichte Musik, Ernste Musik und Wort. Das Hörerpublikum, das gerne auch Rockmusik hören wollte, wanderte in Scharen zu den Piratensendern ab. Irgendwann wurde das der BBC zu dumm, und 1967 beschloss sie die Gründung von




Mit neuer Gesetzgebung konnten zumindest die Piratenstationen, die sich in leerstehenden Militärgebäuden in der Themsemündung niedergelassen hatten, gestoppt werden. Die Sendeschiffe außerhalb der Dreimeilenzone nicht, aber die BBC hatte die klare Ansage gemacht, deren Hörer zur BBC zurückzuholen -- und sie warb deren DJs ab. Und so begann die streckenweise recht abenteuerliche Geschichte von Radio 1.

Die kann man jetzt nachlesen; Robert Sellers hat sie aufgeschrieben. Da liest man erstaunliche Dinge, zum Beispiel die Schwierigkeiten der DJs, sich mit den Gewohnheiten der BBC anzufreunden -- freies Reden gab es nicht, Texte hatten vom Manuskript abgelesen zu werden, der Producer teilte Sprechzeiten zwischen den Musikstücken zu (meist genau 30 Sekunden), und die Sprecher der BBC hatten Schlips und Dinnerjacket zu tragen (Frauen waren eh eine seltene Spezies im Funkhaus). Weil es noch keine Hausausweise gab, scheiterten die manchmal wild aussehenden DJs (viele, etwa John Peel, werden im Buch portraitiert) immer mal wieder am Pförtner, zumal die Sendungen nicht aus dem Hauptgebäude der BBC kamen, sondern Radio 1 ein eigenes Gebäude hatte, das Egton House. Nach einer Weile wurden die DJs zu Stars und Superstars, das begriffen dann auch die Pförtner. 

Die Musikergewerkschaft kämpfte mit harten Bandagen: Sie nahm lange Zeit nicht zur Kenntnis, dass die Hörer die Platten der Rolling Stones oder der Beatles hören wollten -- nicht die vom BBC-Orchester gespielten Coverversionen, worauf die Gewerkschaft aber bestand. Überhaupt sahen sie Schallplatten als natürliche Feinde der von ihnen vertretenen Musiker an, und so gab es endlose Auseinandersetzungen um die sogenannte "needle time", die Zeitfenster also, in denen Platten gesendet werden durften. Irgendwann konnte man der Gewerkschaft klarmachen, dass auch Platten von Musikern eingespielt wurden, nicht von irgendwelchen Geistern.

Man staunt darüber, dass Radio 1, obwohl es sehr schnell das beliebteste BBC-Programm wurde, bis 1993 nur in mono über die Mittelwelle zu empfangen war (was mir insofern recht war, als man damit Radio 1 auch in Hamburg hören konnte, wenn die Atmosphäre nicht allzu verknistert war). Erst dann schaufelte die BBC etliche un- oder anders genutzte UKW-Frequenzen frei und schaltete Radio 1 auf. Erst 1993 gab es die ersten Sendungen von CDs in Stereo. Auch war bis 1990 strikt um 2 Uhr nachts Sendeschluss. Es musste erst die Berichterstattung über den Golfkrieg kommen. Die sollte rund um die Uhr laufen, und das behielt man nach dem Ende des Krieges klammheimlich bei. Die Schicht von 4 bis 6 Uhr morgens galt lange Zeit als "graveyard shift", bis die Hörerforschung dahinterkam, dass selbst um diese Zeit ein sehr buntes Hörerspektrum erreicht wurde, allerdings andere Hörer als später am Tag oder am Abend.

Ein interessantes Buch, wenn man sich ein bisschen für Radiogeschichte interessiert. Gelegentlich ein bisschen zu sehr auf Anekdoten hin geschrieben, aber das macht wenig; unterhaltsam ist es eh.

Robert Sellers:
The Remarkable Tale of Radio 1
The History of the Nation's Favourite Station 1967-95
Omnibus Press, ISBN 9-781913-17212-1

 

Monday, May 15, 2023

Wiederentdeckt

Der Komponist Johannes Brahms, wäre ihm nicht der Leberkrebs dazwischengekommen, hätte vor einigen Tagen seinen 190. Geburtstag feiern können. Was mich daran erinnerte, dass Michael Naura und Wolfgang Schlüter ein Stück eingespielt haben, das sich lose improvisierend an eines der "Abendlieder" des Geburtstagskindes anlehnt.

Country Children heißt dieses Album, aufgenommen 1977 von Dietram Köster bei Radio Bremen, erschienen 1980 auf dem wohl eigens für das Trio Naura/Schlüter/Rühmkorf geschaffene Imprint-Label ECM-SP. Die LP erlebte nur eine einzige Auflage; auf eine CD oder in einen Streamingdienst hat es die Platte nie geschafft -- vielleicht, weil Manfred Eicher an der Produktion nicht selbst beteiligt war.

Michael Naura ist nicht Chick Corea und Wolfgang Schlüter ist nicht Gary Burton. Genau das spielen die beiden hier aus. Schlüter spielt Vibraphon und gelegentlich Marimba, er dreht Pirouetten und riskiert gelegentlich gewagte Sprünge auf dem Fundament, das Naura mit ruhigen, meist fließenden Klavierakkorden bildet. Fast alle Stücke könnte man sich auch als Begleitung für Peter Rühmkorfs von ihm selbst gesprochene Gedichte vorstellen, aber auf diesem Album ist er nicht dabei. "Ballade für eine Silberhochzeit" legt die Stimmung fest, die das Album in wesentlichen durchhält. Ein paar atonale Einwürfe überraschen in "Schlafen", "Rosemary's Baby" (die einzige Fremdkomposition) bringt ein paar klangtechnische Spielereien, die in ihrer Verwischtheit an den gleichnamigen Film denken lassen. Der Titeltrack "Country Children" ist dem "Abendlied" wie aus dem Gesicht geschnitten, "Call" erinnert an ein früheres Album des Michael Naura Quartetts von 1971.

Wer Crystal Silence mochte, wird Country Children lieben. Zeit für ein Remaster!




Thursday, May 4, 2023

Kastanienallee

Zufällig bin ich über einen sehr lesenswerten Artikel gestolpert, hier. Sofort war die Erinnerung wieder da an Silvester 1987/88, Prenzlauer Berg, Kastanienallee, mit meinen damaligen Bekannten, die zu den "subversiven" gehörten. Musiker, deren "Westkontakt" ich war, der Batterien für das Yamaha-Echogerät und derlei Zeugs besorgen konnte. Nachmittags am Grenzübergang gab es schon kaum noch ernste Kontrollen, die Flasche Sekt ließ der Grenzer unbeanstandet. Später ein Bier im Prater. Abends Silvesterparty. Da wurde schon darüber debattiert, was wohl passieren werde, wenn "das Kapital" käme. Am nächsten Morgen sind wir dann mit Kater durch die Eberswalder gelatscht. Ich weiß nicht mehr, ob ich es gesagt oder nur gedacht habe, dass das Monstrum da vorne die Straße wohl nicht mehr lange versperren werde. Man musste kein Hellseher sein, um das zu spüren. Schade, dass sich die Kontakte später alle im Sand verlaufen haben.

Die im Artikel erwähnte Ausstellung in Berlin ("Voll das Leben") ist mit Sicherheit sehenswert. Wie auch dieser Fotoband von Harald Hauswald.




Sunday, April 2, 2023

Ryuichi Sakamoto 1952 - 2023

 



Tokyo Melody -- A french film by Elizabeth Lennard, documenting Sakamotos work on his album Illustrated Musical Encyclopedia (1984).

Bye bye, Mr. Sakamoto!

Saturday, March 11, 2023

At The Warhol

 



Derzeit in Pittsburgh: Auf zwei Etagen die Geschichte von Andy Warhols Interview-Magazin und anderen Medienaktivitäten.

Hier zum Beispiel eine Ausgabe mit Isabel Adjani auf dem Cover -- oben das geklebte Layout, darunter das gedruckte Cover:

 





Interview wurde gegründet von Andy Warhol und dem englischen Journalisten John Wilcock und erschien ab 1969 alle zwei Monate, auch genannt "The Crystal Ball of Pop". Ab 1972 wurden die meisten Coverfotos von Richard Bernstein geschossen, sie haben einen erkennbaren Stil, der dem Magazin eine gewisse Einheitlichkeit gab. Die Ausstellung zeigt in drei Räumen alle Ausgaben, die zu Andys Lebzeiten veröffentlicht wurden, also alle bis 1987. Leider nur unter Glas, aber anders geht es wohl nicht:


Es gibt das Magazin noch immer, eine große Rolle spielt es allerdings heute eher nicht mehr.



Nichtsdestotrotz, die Hefte, die ich noch besitze, bleiben im Archiv und wandern nicht ins Altpapier:



Warhols TV-Experimentierereien, "Warhol TV" und "Warhol's Fifteen Minutes", stehen heute teilweise online. Die diversen Portraits, viele davon Auftragsarbeiten, die Andy für 10.000 Dollar anfertigte, sind natürlich als Poster hinlänglich bekannt. Man ist trotzdem verblüfft, wenn man vor dem originalen Siebdruck steht und erkennt, dass sie wirklich Einzelstücke mit dicken Farbschichten sind.

Ab Mai gibt es eine Ausstellung zu Velvet Underground & Nico. Mehr dazu dann hier; ich bin gespannt.

Damit schöne Grüße aus dem "Silver Clouds"-Raum des Museums. Immer wieder schön, mit den Dingern zu spielen.




Sunday, February 26, 2023

Schilleroper

 

 
 

Lilli:
Entsinnst du, wie der Elefant gestorben ist?

Max:
Das weiß ich noch, ja.
Da habe ich dagestanden, wie sie ihn auseinandergeschnitten haben,
damit sie ihn aus dem Hof rauskriegten.

 

Lilli Rober und ihr Bruder Max. Bis 1908 sind die beiden im Ensemble, sie als Tänzerin, er als Schauspieler und Wasserpantomime. Als die Stiefmutter Lilli wieder einmal mit dem Feuerhaken verprügelt, reißt Max nach Amerika aus.

Eine von vielen Geschichten um die Schilleroper in Hamburg.

 

 
 

1890. Das markante Rundgebäude wird als stationärer Zirkus mit 1000 Plätzen errichtet, mitten zwischen überbevölkerten Hinterhöfen, Passagen- und Terrassenwohnungen im cholerageplagten Altona, das damals noch zu Dänemark gehört. Eine Gegend, in der die Miete mit dem Revolver kassiert wird. Stahlgerüst, Wellblechwände, Pappdach, die Baukosten betragen 38.000 Mark. Betrieben vom Wanderzirkusunternehmer Paul Busch ist der Zirkus die Antwort Altonas auf die Konkurrenz, den einen knappen Kilometer Luftlinie entfernten Circus Renz in Hamburgs Rotlichtbezirk St. Pauli. Der Bau ist auch ein direkter Affront des Altonaer Magistrats gegen den übermächtigen Nachbarn Hamburg.

2016 habe ich das Gebäudeensemble zuletzt gesehen. Der Rundbau mit seinen teils ein-, teils zweistöckigen Nebengebäuden liegt im Schnittpunkt von St. Pauli, Karolinen- und Schanzenviertel, wenn auch von diesen abgetrennt durch zwei der dicksten Verkehrsadern Hamburgs. Für Stadtplaner gleichwohl eine Top-Lage, ein Filetstück mitten in einem hochverdichteten Wohngebiet, dessen Einwohnerschaft allerdings noch immer allergisch auf unerwünschte Eingriffe reagiert hat – die berühmt-berüchtigte „Rote Flora“ ist nur einen Katzensprung entfernt. Die Stahlkonstruktion der Rotunde gilt als Beispiel frühindustrieller Tragwerksarchitektur, deshalb ist das Gebäude geschützt. Der Gebäudekomplex darf nicht betreten werden, es besteht Einsturzgefahr, zudem kann man, wenn man nicht aufpasst, in ungesicherte alte Abflussrohre treten. Nachts spielen hier die Ratten Billard, die Nebengebäude, in denen sich zeitweilig einige Kleingewerbetreibende niedergelassen hatten, stehen jetzt leer und sind vernagelt. Niemand weiß, was mit der Schilleroper passieren soll. Im Prinzip scheinen die Besitzer darauf zu warten, dass das Stahlgerüst von selbst zusammenbricht. Ein Schelm, wer dahinter Absicht vermutet.

 

 
 

Um 1900 erhält der Circus Busch eine weltweit einmalige Sensation: eine Manege, die hydraulisch abgesenkt und geflutet werden kann. Man spielt eine Wasserpantomime namens „Sibirien“ und lässt zwölf Eisbären aus der Kuppel auf einer Rutsche ins Wasser platschen. Zwischen den Vorstellungen stehen die Eisbären auf einem Schrottplatz in der Nähe. Der Autoverwerter, dem der Platz gehört, existiert noch heute.

1905 schließt der Circus Busch seine Pforten und zieht nach St. Pauli in den Circus Renz. Der Architekt Ernst Michaelis übernimmt das verlassene Haus und baut es zu einem Theater mit 1400 Plätzen um. Zur Eröffnung spielt man Schillers „Was ihr wollt“. Die Bühnenarbeiter des Schiller-Theaters, wie das Haus seitdem heißt, kommen aus der Nachbarschaft – Werftarbeiter, für sie ein Nebenverdienst, den sie gut gebrauchen können. Lilli Rober tanzt mit dem später populären Stummfilmdarsteller Lupu Pick den Cakewalk, man spielt niederdeutsche Komödien, Sittenstücke und zu Lokalrevuen umgearbeitete Klassiker. Aus einer solchen Revue geht der Hit „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ hervor. Ein 21-jähriger Nachwuchsschauspieler, den man vom Hamburger Operettenhaus abgeworben hat, wird damit zum lokalen Star, ein gewisser Hans Albers:

 

 
 

Der Hamburger Dichter Robert Walter wird Dramaturg. Er nimmt heitere und ernste Stücke ins Programm, gern auch Patriotisches. Im Sommer, wenn die Hamburger Staatsoper Ferien hat, heuert er deren Musiker an und lässt Opern spielen, aber auch für artistische Shows und Ringkämpfe ist man sich nicht zu schade. Das Gebäude lässt das alles zu.

Dies alles vermischt sich mit dem Leben ringsum. Die Kulissenmalerwerkstatt ist die Straße, der nahegelegene Kohlenhändler kümmert sich um die Tiere, die auf der Bühne eingesetzt werden, die Komparserie stammt aus der unmittelbaren Nachbarschaft, ebenso wie die Kinder, die fürs Weihnachtsmärchen benötigt werden. Klempnermeister Willy Küker entzündet nicht nur allabendlich das Gaslicht im Haus, sondern betreibt auch die Theaterkneipe, in der seine Frau den Theaterleuten, Musikern, Artisten und Nachbarn Bier, Kartoffelsalat und Eintopf serviert. Die Klempnerei liegt um die Ecke, sie existiert noch.

 

 
 

Im Ersten Weltkrieg werden Benefiz-Veranstaltungen für gefallene Offiziere gespielt und treffen sich hier illegal die örtlichen Sozialdemokraten. 1917 übernimmt Hans Pichler das Haus, der Schwiegersohn des Schauspielhaus-Direktors. Von dort wird er auch unterstützt. Trotzdem geht Pichler 1921 pleite. Das Haus wird kurzfristig vom Altonaer Stadttheater mitbespielt. 1922 hat in der nahegelegenen Flora die Revue „Wie steht der Dollar?“ Premiere. Sie ist so erfolgreich, dass Flora-Direktor Max Ellen sie im leerstehenden Schiller-Theater weiterspielen lässt und die Leitung des Hauses übernimmt.

Bis zum Beginn der Nazi-Ära bietet das Schiller-Theater nun alles, was man als „die Zwanziger Jahre“ im Kopf hat. Freche Revuen mit Batterien dressierter Tänzerinnen gibt es ebenso wie Klabunds „Kreidekreis“, Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“ oder Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ – Stücke, die in direkter Konkurrenz zu Erich Ziegels Hamburger Kammerspielen mit ihrem Publikumsliebling Gustaf Gründgens stehen. Spuren davon finden sich später in den Büchern Klaus Manns – real („Der Wendepunkt“) und halbfiktiv („Mephisto“). Auch Laienspielgruppen der Arbeiterbewegung nutzen die Bühne. Gegen Ende der 20er Jahre kommt es in dem prinzipiell roten Viertel um das Theater herum zunehmend zu Zusammenstößen zwischen SA und Kommunisten, gelegentlich zu Schießereien. Einige Einschusslöcher sieht man noch.

 

 
 

1933 wird unter einem Vorwand der jüdische Direktor Max Ellen entlassen. Nach einem Umbau heißt das Gebäude nun „Oper im Schiller-Theater“ oder kurz: „Schilleroper“. Zur Eröffnung gibt man den „Freischütz“. Man versucht zu lavieren: Einerseits spielt man „Der Wanderer“, ein Stück von Joseph Goebbels, andererseits wird Musik von Ernst Krenek oder Paul Hindemith aufgeführt, Franz Lehár dirigiert selbst die Premiere seiner „Giuditta“.

1939, mit dem Stück „Sonnenstrahl im Hinterhof“, endet die Theatergeschichte der Schilleroper. Sie wird geschlossen, weil keine Luftschutzräume vorhanden sind. Im Gebäude werden Kriegsgefangene untergebracht, später dann ausgebombte Familien aus der Nachbarschaft. Bombentreffer tun ein Übriges.

Die Schilleroper wird nach Ende des Krieges nicht wieder als Theater in Betrieb genommen. Sie dient vorrangig als Lagerraum und Garage. 1951 richten Motorradartisten die Rotunde für eine Steilwandnummer her, danach passiert lange nichts mehr. In den 60er Jahren beherbergt die Schilleroper kurzfristig ein Hotel, später werden dort „Gastarbeiter“, wie man sie nennt, von der Werft Blohm & Voss untergebracht. In den 70er Jahren gibt es einige Brandstiftungen und kurzfristig zieht ein Kulturverein ein. Für die Spielzeit 1980/81 möchte das Deutsche Schauspielhaus die Schilleroper als Ausweichbühne nutzen. Statt dessen ziehen wiederum ausländische Arbeiter in die Nebengebäude ein, im ehemaligen Foyer eröffnet ein italienisches Restaurant. Das wird bald wieder geschlossen – wegen verbotenen Glücksspiels.

 

 
 

Immer wieder werden seither neue Nutzungspläne entworfen und wieder verworfen – weitere Zirkuspläne, ein Musikclub, ein Kino, ein Haus für Swing-Musikpartys. Nichts davon wird realisiert, es werden Asylbewerber einquartiert. 2008 zeigt Bernhard Paul vom Circus Roncalli Interesse, das Gebäude zu mieten. Man lässt ihn abblitzen. Die um die Rotunde herum liegenden Gebäude -- frühere Künstlergarderoben, Büros etc. -- werden zeitweilig von Kleingewerbetreibenden genutzt.

 

 
 

Es bildet sich eine Anwohnerinitiative, die das Gebäude auf sozialverträgliche Weise reaktivieren will. Der Stadtplaner Jo Claussen-Seggelke legt einen Plan vor, aber die Eigentümer wechseln wiederholt. Derzeit gehört das Gelände einer Objekt-GmbH, der Geschäftsführer ist ein Rechtsanwalt. Niemand weiß, wer tatsächlich hinter dieser Firma steht.  

Und das Gebäudeensemble verfällt, weiter und weiter.

 

 
 

2021. Man weiß inzwischen, wer die Eigentümerin ist. Sie tritt selbst nie in Erscheinung, aber irgendwie gelingt es ihr immer wieder, die Vorgaben des Bezirksamtes nicht zu erfüllen -- oder sie so zu erfüllen, dass der Verfall des Ensembles weitergeht. Die Gebäude sind schließlich nicht mehr zu retten. Die Eigentümerin lässt sie abreißen. Wie nicht anders zu erwarten, lässt sie auch das Hauptgebäude weiter verrotten, mit dem Argument, es stehe ja nur das Stahlgerüst unter Denkmalsschutz. Das Bezirksamt findet keinen Weg, dagegen vorzugehen. 2022 schließlich lässt die Besitzerin sämtliche Gebäudeteile abreißen; es steht wirklich nur noch das nackte Stahlgerüst.

 

 
 

Das ist der traurige Rest. Mit dem kann nun niemand mehr etwas anfangen, und man benötigt nicht viel Fantasie, um sich ausrechnen zu können, wie lange die Stahlkonstruktion dem Wetter noch ungeschützt standhalten kann. Das Bezirksamt sollte sich selbst anzeigen. Wegen Dummheit im Dienst.

Was bleibt, sind Fotos und Erinnerungen, die Dissertation von Anke Rees

 

 
 

sowie ein schönes Buch und ein dazugehöriger Dokumentarfilm von Horst Königstein, gedreht 1980.

 

 
 

Den Film sollte der NDR einmal wieder aus dem Archiv holen. Das Buch findet man gelegentlich noch gebraucht.

 

 

Sunday, February 19, 2023

[AT10]: Asmus Tietchens: Litia


Weiter geht's mit Tietchens. Farbenfroh und knallig, nicht nur optisch, sondern auch akustisch: Litia, 1983 erstmals erschienen und letzter Teil der Sky-Records-Episode. Es spielt wiederum das Zeitzeichenorchester, welches nach wie vor aus Anagrammen des Meisters besteht.

Man merkt der Platte an, dass sie eine Art Pflichterfüllung darstellt, und ich halte sie für die schwächste der vier Sky-Alben. Das heißt aber nicht, dass sie etwa schlecht wäre; wer die anderen drei Alben der Serie mochte, wird sich auch mit dieser anfreunden können. Zwei neue Instrumente sind zu verzeichnen, ein Korg Polysix und eine programmierbare Rhythmusmaschine namens MFB-521, über die Tietchens schreibt, seine ursprüngliche Faszination sei bald der Ernüchterung gewichen. (Dieses Ding hatte ich einmal selbst, es war billig, aber kompliziert zu bedienen, ließ sich nur auf Umwegen mit meinem sonstigen damaligen Equipment synchronisieren und gehörte klanglich in die Abteilung "Klopfgeist". Ich habe das Gerät nach ein paar Wochen wieder verkauft. Auch bei Tietchens taucht es später nicht wieder auf.) Mit diesen Geräten sowie einem verwaschen klingenden Hallgerät produziert Tietchens stark rhythmusorientierte Klanglandschaften, tragfähige Melodien sind hier vergleichsweise selten zu hören. Es ist unüberhörbar, dass sich Tietchens bereits vestärkt mit Industrial befasste, doch dafür war Sky-Chef Günter Körber nicht zu begeistern. So blieb Litia die letzte Sky-Veröffentlichung.

Es scheint ein wenig merkwürdig zu sein, dass die vier Sky-Veröffentlichungen stets als eine Art "eigenständige Werkgruppe" gesehen werden, aber hört man sie im Kontext mit Tietchens' weiteren Platten, dann wird deutlich, dass sie tatsächlich eine solche bilden. "Poppiger", wenn man das überhaupt so sagen kann, ist Tietchens nie geworden -- wenn überhaupt, dann wäre an die Aroma-Club-Veröffentlichungen zu denken. Aber die sind von hier aus gesehen noch einige Jahre entfernt; die Reihe begann im Jahr 2000.




Die 10-inch-Platte Rattenheu, erschienen 1996 auf dem Hamburger Label The Bog, enthält fünf Stücke, die für die Sky-LPs keine Verwendung gefunden hatten. Sie stehen diesen qualitativ in nichts nach.




Litia wurde 2004 auf dem Bremer Label Die Stadt als CD wiederveröffentlicht. Diese Version enthält die fünf Rattenheu-Titel als Bonustracks, allesamt wunderfeinst klangrestauriert und mit Liner Notes vom Meister selbst versehen.

Bliebe noch auf Der fünfte Himmel hinzuweisen, 2014 auf Bureau B erschienen. Hier sind neben den Rattenheu-Titeln noch sieben weitere Stücke versammelt, die in die Sky-Reihe gehören würden. Diese waren allerdings bereits als Bonustracks über die Stadt-Wiederveröffentlichungen der Sky-Serie verteilt.





Litia
- Sky Records; Sky 087 (1983)
- Die Stadt; DS 80 (2004)
Rattenheu
- The Bog; Bog 003 (1996)
Der fünfte Himmel
- Bureau B; BB 156 (2014)