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Tuesday, May 13, 2025

Jonas Engelmann: Gesellschaftstanz

 

Sein Interesse gilt den Außenseitern des Musikgeschäfts. Denen widmet sich Jonas Engelmann mit viel Kenntnis und Sympathie. Dabei geht es ihm nie nur um Musik, sondern immer auch um ihre Einordnung in soziale, politische und wirtschaftliche Hintergründe. 

Ein Beispiel gefällig? Ich habe bislang immer geglaubt, in einem Musikstück ein Sample einer anderen Platte unterzubringen, sei eine Art Statement: Das Sample soll wiedererkannt werden und dient so dazu, dass der Künstler X seine Verehrung für den Künstler Y zum Ausdruck bringt, oder -- die spannendere Variante -- sich ein Statement Ys zu eigen macht, im Sinne von: Ich, X, teile das, wofür Y steht.

So war das wohl auch mal. Aber wussten Sie, dass Sampling mittlerweile zu einem blühenden Geschäftszweig geworden ist? Dass es sich für Plattenfirmen mittlerweile lohnt, Leute speziell fürs "Clearing" von Samples zu beschäftigen, um ihren Einsatz rechtlich und kaufmännisch korrekt abzuwickeln? Dass für ein Sample berühmter Künstler, etwa James Brown, Marvin Gaye, Otis Redding oder auch Barry White (richtig, dem "Walrus of Love") fünf- bis sechsstellige Dollarbeträge über den Tisch gereicht werden?

So krass war mir das nicht bekannt. Mir scheint mit dem Sample-Handel inzwischen eine Form der Zweitauswertung entstanden zu sein, die oft schon mehr Umsatz generieren dürfte als der Verkauf der ursprünglichen Platte (wobei das Sampling natürlich auch zur Vermarktung des Originals beiträgt).

Was tut sich da für ein merkwürdiger Widerspruch auf zwischen einerseits einem sozialen oder politischen Anliegen der Künstler und andererseits ungebremstem Kapitalismus? Oder ist es gar kein Widerspruch? Man schätzt da vieles falsch ein. Denn war nicht der ungebremste Kapitalismus schon immer Teil der Szene? Sollte jemand gedacht haben, ein Grandmaster Flash sei mal aus irgendeinem armen New Yorker Schwarzenghetto hervorgegangen, so entspricht das sicherlich dem damals in den Medien vermittelten Image. Weiß man jedoch, dass der Grandmaster schon früh über einen Fairlight verfügte, stellt sich seine soziale Situation doch ein wenig anders dar. Offenkundig gab es einen Riss zwischen dem projizierten Image und der Wirklichkeit. Und was ist heute von gerappten Anklagen, Empörungstexten und der damit angestrebten Street Credibility zu halten, wenn der Rapper (oder sein Produzent) in der Lage ist, Summen wie die obengenannten für ein simples Sample zu zahlen? -- Ein interessanter Aspekt übrigens auch im Hinblick auf aktuellste Entwicklungen der Black Music.

Die weltanschauliche Theorie ist offenkundig das eine, aber wichtig ist aufm Platz. Da sind wir mitten drin in Jonas Engelmanns Themen und Thesen. Seine Positionen sind eindeutig, nicht immer leicht zu schlucken, aber meist wohlbegründet. Er untersucht Felder wie Außenseiter-Jazz (Sun Ra Arkestra, Matana Roberts, June Tyson), HipHop, Avantgarde (John Zorn, Public Enemy u.a.), die politischen Lieder eines Woody Guthrie, ein Konzert (oder sollte man sagen: das Konzert) von Aretha Franklin. 

Alles dies nimmt Engelmann als kulturelle Statements ernst. Er schreibt, wie der Untertitel des Buches verrät, über Klangverhältnisse und Außenseiter-Sounds. Auf 130 Seiten bietet das Bändchen eine Sammlung von insgesamt 19 Artikeln, die zwischen 2012 und 2024 erstveröffentlicht wurden. Ein Blick ins Verzeichnis ihrer Herkunft lässt Rückschlüsse auf ihre Perspektive zu: Neues Deutschland, Jungle World, Freitag, taz, Ventil-Verlag (dessen Co-Verleger Engelmann ist), außerdem ist er Mitherausgeber der testcard-Buchreihe.

Jonas Engelmann geht an die musikalischen Wurzeln, er benennt gesellschaftliche Entstehungshintergründe, er spricht über Rassismus, Queerfeindlichkeit, Praktiken der Musikindustrie, er checkt die Quellen musikalischer Phänomene. Sein Buch ist voller Anregungen, denen nachzugehen sich lohnt (man staunt manchmal, was man im Web mittlerweile alles finden kann, wenn man einmal über die einfache Googlesuche hinausgeht). Und weil er zu argumentieren versteht, macht es Spaß, sich mit seinen Schlüssen auseinanderzusetzen, auch wenn man nicht jeden einzelnen unterschreiben möchte.

Jonas Engelmann:
Gesellschaftstanz -- Klangverhältnisse und Außenseiter-Sounds
Verlag Andreas Reiffer, edition kopfkiosk Bd. 12
Meine 2025
ISBN 978-3-910335-12-7

Thursday, May 8, 2025

Re-viewed

(Scroll down for English translation)

 

Es ist ein eigenartiges Erlebnis, alte DVD-Boxen wiederzuentdecken: Rote Erde war 1983 ein Prestigeprojekt der ARD. Damals war ich von dieser Serie schwer begeistert. Gelingt ihr das auch noch heute, nach mehr als 40 Jahren?

 

Die Bergarbeiter-Saga aus dem Ruhrgebiet, wie sie im Untertitel hieß, besteht aus zwei Staffeln. Zeitlich umfasst die Staffel 1 (hergestellt 1983) den Zeitraum von 1887 bis 1919, Staffel 2 (hergestellt 1990) schließt direkt daran an, von 1920 bis zu den ersten Zechenschließungen 1949. 

Ein genauer Spielort wird nie genannt, aber der Titel ist natürlich eindeutig. Die Serie ist irgendwo im Westfälischen anzusiedeln, zwischen Niederrhein und Weser. Dabei hat der Begriff "rote Erde" weder mit Klassenkampf noch, wie man vielleicht vermuten könnte, mit blutgetränkten Schlachtfeldern zu tun, sondern leitet sich wohl von "gerodeter Erde" ab. Dass man den Titel auch mit der Arbeiterbewegung des Ruhrgebietes in Verbindung bringen kann, liegt allerdings nahe und spielt in der Serie keine geringe Rolle.

Der Set war jedoch anderswo, nämlich auf dem Bavaria-Ateliergelände in München-Geiselgasteig. Dort hat man liebevoll eine Bergarbeitersiedlung nachgebaut -- Häuser, Straßen, Wohnungen, Dachböden mit Taubenschlägen, und auch die Schachtanlage selbst, letztere zu ebener Erde. Damals fiel es mir nicht auf, heute beim zweiten Sehen scheint es mir aber doch, dass es immer dieselben drei Stollen sind, die man sieht. Die wurden allerdings mit Hilfe des Lichts und aller möglichen Kameraperspektiven ziemlich gekonnt ausgereizt.

Die erste Staffel lief damals konkurrenzfrei; es gab noch kein kommerzielles Fernsehen und keine Streamingdienste in Deutschland, Binge-Watching war noch kein Thema.

 

Rote Erde II folgte dann 1990, da musste die Serie bereits gegen etablierte Kommerzsender anfunken. Das merkte man nicht nur optisch, schon die Formate unterschieden sich: Während die erste Staffel in 9 x 60 Minuten präsentiert wurde, kam die zweite in vier spielfilmlangen Teilen. Die sieben Jahre zwischen den Drehdaten und die kommerzielle Konkurrenz machten sich bemerkbar; die Filmsprache der zweiten Staffel war knapper und schneller. 

Aber auch das fällt auf: Geschrieben wurde das Ganze noch nicht von der Belegschaft eines "writer's rooms", sondern von dem versierten Hörspiel- und Drehbuchautor Peter Stripp (mit fachkundiger Beratung u.a. durch das Bochumer Bergbaumuseum), inszeniert hat die Rote Erde der TV- und Theaterregisseur Klaus Emmerich. Beide, Autor und Regisseur, waren damals schon länger im Geschäft. Nichts gegen die Idee des writer's rooms, aber es ist ein Unterschied, ob (wie heute üblich) ein Headautor für die Produktion einer Serie etliche Storyliner einsetzt, die dann Dialoge etc. ausarbeiten (ich war selbst mal so einer), oder ob die Drehbücher von Anfang bis Ende in der Hand eines Autors liegen: Da merkt man deutlich dessen individuelle Handschrift. Für eine Serie wie diese scheint mir die dadurch gewährleistete stilistische Einheitlichkeit klar die bessere Lösung zu sein.

Es spielten prominente Namen: Ralf Richter, Dominic Raacke, Sunnyi Melles, Walter Renneisen, Klaus Wennemann, Jörg Hube, Klaus J. Behrendt, Dominique Horwitz, Nina Petri, der wunderbare alte Rudolf Schündler -- das allein waren schon Empfehlungen. Und man sah eine interessante Neuentdeckung: Claude-Oliver Rudolph. Seltsam: Ich erinnerte noch, dass er mitspielte, hätte aber nicht mehr gewusst, dass er tatsächlich sogar die Hauptrolle spielte: den 17-jährigen polnischen Bauern Bruno Kruska. Von Werbern ins Ruhrgebiet gelockt will er auf der Zeche Siegfried anlegen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was das eigentlich heißt: Bergwerk. Bruno ist eine undurchschaubare Figur, aber er hat seine Grundsätze. Er lebt sich schnell ein, und ebenso schnell wird deutlich, dass er sich auch gegen Widerstand von niemandem vereinnahmen lassen will. Eine sehenswerte Kombination von Eigenschaften. Man lebt und altert vom Beginn der Serie bis zu seinem Tod in der zweiten Staffel mit Bruno mit; er ist Sympathieträger und gleichzeitig ein Typ, mit dem man sich nicht anlegen möchte. In einer bestimmten Situation lässt er sich sogar dazu hinreißen, aus einem Rachemotiv heraus einen Steiger in einen Blindschacht stürzen zu lassen, aus dem sich dieser nicht mehr befreien kann. Konsequenzen hat dieser Mord für Bruno nicht. -- Der Regisseur Dieter Wedel besetzte Rudolph später mehrfach mit brandgefährlichen Schlägertypen, was einerseits authentisch wirkt, aber auch seine schauspielerische Bandbreite eingrenzt.

Und nicht nur mit Bruno Kruska geht es einem so: Man möchte die Protagonisten sympathisch finden, man folgt ihren oft krummen Lebenswegen und Schicksalen, und dennoch bleiben sie merkwürdig fern; man ist gespannt, was sie als nächstes tun, und doch: Man bleibt letztlich doch eher unbeteiligt. 

Die Erzählweise der Serie würden wir heute als "horizontal" bezeichnen, damals gab es diesen Begriff noch nicht. Die Folgen bauen aufeinander auf, ihre Reihenfolge ist zwingend. So verhindern die Kumpel etwa am Ende der ersten Staffel die Sprengung des Förderturms, indem sie das Werk besetzen und sich sogar den aufmarschierenden Soldaten entgegenstellen. Am Ende der zweiten Staffel, im Jahr 1949, wird er dann doch in die Luft gejagt: Sein Einsturz wird den Protagonisten geradezu wie die ungewisse Zukunft selbst vor die Füße geknallt. 

Bemerkenswert ist auch der Dreh, die Nazizeit (an der die Serie natürlich nicht vorbeikommt) nicht als Abstraktum aufarbeiten zu wollen oder einfach nur die üblichen Flaggen wehen oder Naziuniformen durchs Bild laufen zu lassen. Stattdessen wird hier ein Ereignis unmittelbar an eine Person geknüpft: Brunos Sohn Max, der zunächst mit den Nazis sympathisiert, erlebt mit, wie ein wohl etwa 12-jähriger Junge ein Brot klaut, dabei von einem allen bekannten SS-Mann erwischt und vor versammelter Pütt-Belegschaft gehängt wird. Alle stehen da, alle sehen zu, auch Max. Etliche ballen die Fäuste, alle könnten eingreifen, keiner tut es. Dieses Erlebnis lässt Max nicht wieder los und bringt ihn am Ende zu einem Schuldeingeständnis, das ich hier nicht verraten will, das aber noch lange nachhallt.

Unterschiede zwischen damals und heute? Unser Sehverhalten hat sich verändert, und das hat Rückwirkungen auf die Filmgestaltung. Einiges, das mir damals, Anfang der 1980er, nicht mal aufgefallen ist, macht sich beim heutigen Wiederanschauen deutlich bemerkbar: Rote Erde hat erhebliche Längen, manche Szenen wurden endlos ausgewalzt, obwohl man längst begriffen hat, worum es geht. Geburten werden ebenso wie Vergewaltigungen in epischer Breite gezeigt. Viele Charaktere sind, wie schon erwähnt, arg holzschnittartig und müssen mit zwei Eigenschaften und ebensovielen Gesichtsausdrücken auskommen. Vor allem aber wird ständig gebrüllt. Das scheint eine Marotte deutscher Schauspieler und Regisseure seit je zu sein; schon Kurt Tucholsky in den 1920ern hat sich darüber amüsiert, dass deutsche Schauspieler ständig schreien. Auch in Rote Erde wird zu oft Hysterie als Stilprinzip eingesetzt, wird Aufgeregtheit mit Spannung verwechselt. Ebenso nervt es nach einer Weile, dass jeder Kneipenabend in einem sinnlosen Besäufnis mit anschließender Schlägerei endet. Natürlich sollen und müssen in einer Serie wie dieser das Elend der Arbeiter, die soziale Ungerechtigkeit, ihre erzwungene Bildungsferne, ihre meist elende Wohnsituation, die auf Befehl und Gehorsam beruhende Arbeitswelt gezeigt werden -- aber muss man sie wirklich noch zusätzlich vergröbern, indem man die Farbgebung der gesamten Serie grau, bräunlich und trübsinnig gestaltet? Und weil das noch nicht reicht, muss es immer wieder in Strömen regnen.

Dass im übrigen die gesamte Serie ziemlich linksgedreht ist, wird schnell offensichtlich -- typisch dafür ist die fast karikierende Darstellung des von Dominique Raacke gespielten Sozialdemokraten Karl Boetzkes -- ein politisch im Wind schwankendes Fähnchen, keinem Kompromiss abgeneigt. Er wird von Autor und Regisseur bereits als Figur nicht ernstgenommen, während die Bergleute in ihrer politischen Ausrichtung stets ideologisch gefestigt zu sein scheinen. Es ist diese unhinterfragte Selbstverständlichkeit, die hier stört; heute würde man das nicht mehr so machen. Differenziertere Charaktere, wie etwa der Reviersteiger und spätere Stahlwerksbesitzer Rewandowski, sind selten, und auch er bleibt ein merkwürdig einseitiger Typ, der stets latent negativ dargestellt wird, obwohl er -- wie sich bei einem Grubenbrand zeigt -- sofort weiß, wo sein Platz ist: an der Spitze des ersten Rettungstrupps nämlich. Er ist kein angenehmer Typ, aber er bleibt seinen Überzeugungen treu, und als er merkt, dass seine Überzeugungen nicht mehr gefragt sind, zieht er die klassische Konsequenz. Auch der von den Arbeitern respektierte Kaplan (von Jörg Hube gespielt) wird irgendwann einfach versetzt und taucht dann nur noch einmal wieder kurz auf, ohne dass wir je den Grund für seine Versetzung erfahren. Da wäre mehr drin gewesen. 

Über die historische Wahrheit all dieser Darstellungen kann man ohnehin streiten, Rote Erde ist keine Dokumentation und will auch keine sein. Die linke Perspektive der Serie jedenfalls galt damals als progressiv und war bei Produktionen des deutschen Buntfernsehens normal. Damals ist mir das nicht wirklich aufgefallen, heute schon. Wobei, damit das klar ist, gegen Parteinahme und Sympathie nichts einzuwenden ist, aber es wäre sicher auch ein wenig weniger aufdringlich gegangen.

Rote Erde war in gewisser Weise ein Vorläufer von Edgar Reitz' Meisterwerk, der Heimat-Trilogie, deren erste Staffel im Jahr 1984 ins Fernsehen kam. 

 

Beide Projekte haben nicht voneinander abgekupfert; das konnten sie nicht, da sie zum Teil zeitgleich gedreht wurden. Der Vergleich beider Projekte (Heimat hat sich nicht als "Serie" bezeichnet und ist auch keine) ist dennoch naheliegend und erhellend, denn er zeigt deutlich, wie unterschiedlich die Herangehensweisen waren. Während Stripp/Emmerich sehr auf ein "allgemeines Bild" setzen, auf Atmosphären, die auf der gesamten Serie liegen (um nicht zu sagen: lasten), baut Reitz (der Regisseur und Drehbuchautor war) in seiner Heimat von Anfang an viel stärker auf die Charaktere. Längen gibt es auch in Heimat, aber Reitz hat einen anderen Blick als Emmerich. Und obwohl auch hier die Weltkriege und die Nazizeit nicht ausgelassen werden, gibt es kaum Klischees, keine "Typen", fast alle Figuren sind individuell gedacht, haben ihren eigenen Kopf und eigene Lebensvorstellungen. Auch, wenn man diese nicht unbedingt immer teilt, entstehen doch Wege, Irrwege und sehr lebendige Beziehungen, mit denen man unmittelbar mitfühlt und mitlebt -- ein Effekt, der in Rote Erde praktisch nicht zustandekommt.

Kein kommerzieller Sender würde Serien wie diese beiden je auch nur ins Auge gefasst haben, auch Netflix wohl nicht, obwohl dessen Serienangebot ja zeitweilig ein Ruf wie Donnerhall vorauseilte. (Heute wird man sagen dürfen, dass auch bei Netflix nur mit Wasser gekocht wurde, und inzwischen hat man schon manchmal das Gefühl, dass auch das mittlerweile bereits verdünnt wird.) In den 1980ern waren Projekte wie diese noch möglich. Aber schon die dritte Heimat-Staffel wurde von der ARD regelrecht verhunzt, weil die Verantwortlichen es wichtiger fanden, sie für das Programmschema passend zu machen, statt ihr den Raum zu geben, den sie braucht. So kam es zu dem Effekt, dass nur die DVD-Version die Intentionen des Regisseurs wiedergab, die TV-Ausstrahlung wurde zum Flop. Und das war leider irgendwie sehr typisch.

 

 

Zu guter Letzt: Was mich 1983 vor den Fernseher gelockt hat, in die Rote Erde hineinzuschauen, das war gar nicht der Film, sondern zunächst mal die Musik. Die nämlich war, so hatte ich gelesen, von Irmin Schmidt (den Lesern dieses Blogs muss ich sicher nicht erklären, wer das ist). Es war diese wunderbar melancholische  Titelmusik, die mich sofort erwischt und zum Dranbleiben animiert hat. Sie hat nichts von ihrem Reiz eingebüßt. 

Irmin Schmidt, behaupte ich mal, gehört zu den besten Filmkomponisten im deutschen Sprachraum; er arbeitete auch vor dieser Serie bereits an anderen Serien mit Klaus Emmerich zusammen. (Einen Kommentar von Emmerich findet man in dem Buch "All Gates Open -- The Story of Can" von Rob Young auf Seite 531.) Mit seiner Filmmusikarbeit hielt Schmidt nicht zuletzt auch seine Gruppe CAN über Wasser. An seiner Musik zu den Rote-Erde-Staffeln wirkten damals klingende Namen wie Michael Karoli, John Marshall, Max Lässer, Gerd Dudek, David Johnson und Manfred Schoof mit; es gab den Soundtrack damals, in der Prä-CD-Ära, als LP. Zum Glück habe ich die noch; der Score ist später weder als CD noch in den Streamingdiensten vollständig wiederveröffentlicht worden; lediglich Schmidts erste Filmmusik-Anthologie enthält ein paar Titel. Was sehr schade ist, denn einige der Musiken gehen auch ohne die dazugehörigen Bilder unter die Haut -- etwa die "Trauermusik" aus der ersten Staffel, oder "Es geht ein Schnitter" aus der zweiten: Michael Karoli überlagert in letzterem ein sehr moll-lastiges E-Piano- und Geigenmotiv mit einer langen Gitarrenrückkopplung, die einem buchstäblich die Seele zerschneidet. Dabei gehört schon die Titelmusik zu jener Sorte von Musiken, mit denen man morgens aufwacht, ohne zu wissen, wo sie herkommt. Schmidt findet in seinen Musiken eine perfekte Balance zwischen dem zur fiktionalen Zeit des Films vorhandenen einfachen Instrumentarium und moderner heutiger Elektronik und Verfremdungseffekten. So wird die Musik glaubwürdig, ohne in falsche Volkstümlichkeit zu fallen.

Um die Eingangsfrage zu beantworten, ob es sich lohnt, sich die Serie heute noch anzuschauen: Ja, eindeutig ja, trotz aller Einwände und Relativierungen. Man muss übrigens die DVD-Boxen gar nicht kaufen -- alle Rote-Erde-Folgen stehen hier auf Youtube.

 

*

 

It's a strange experience rediscovering old DVD box sets: "Rote Erde" was a prestige project of the ARD (Germany's public TV) in 1983. I was absolutely thrilled by this series back then. How does ist look today, more than 40 years later? 

 

Rote Erde ("Red Earth"), the miners' saga from the Ruhr region, as it was subtitled, consists of two seasons. Season 1 (produced in 1983) covers the period from 1887 to 1919, while Season 2 (produced in 1990) follows directly on from that, from 1920 until the first mine closures in 1949.

The exact setting is never specified, but the title is, of course, talking. The series has to be set somewhere in Westphalia, between the Lower Rhine and the River Weser. The term "red earth" has nothing to do with class struggle or, as one might suspect, with blood-soaked battlefields, but is probably derived from "gerodete Erde" (cleared earth"). That the title could also be associated with the labor movement in the Ruhr region is obvious, and plays a significant role in the series.

The set, however, was elsewhere, namely on the Bavaria studio grounds in Munich-Geiselgasteig. There, they lovingly recreated a mining settlement—houses, streets, apartments, attics with dovecotes, and even the mine itself, the latter at ground level. I didn't notice it at the time, but now, on second viewing, it seems to me that the three tunnels are always the same. However, they were quite skillfully exploited with the help of lighting and lots of different camera angles.

The first season ran without competition back then; there was no commercial television in Germany (that came not before 1984) and of course no streaming service, and binge-watching wasn't yet a thing.

 

Rote Erde II followed in 1990, by which time the series was already competing with some established commercial broadcasters. This was noticeable not only visually, but also in the formats: While the first season was presented in nine parts with a duration of 60 minutes, the second season came in four feature-length parts. The seven years between filming dates and the commercial competition were noticeable; the film language of the second season was more concise and faster.

But also this is noticeable: the entire series was not yet written by the staff of a "writer's room," but by the experienced radio play and screenwriter Peter Stripp (with expert advice from, among others, the Bochum Mining Museum), and Rote Erde was directed by TV and theater director Klaus Emmerich. Both writer and director had already been in the business for some time. Nothing to say against the idea of ​​a writer's room, but there's a difference between a head writer utilizing several storyliners for the production of a series (as is common today), who then develop dialogue, and so on (I was one of those guys myself once for a daily soap), and a writer's script from start to finish: You can clearly see their individual style. For my taste, a series like this needs the stylistic consistency of one writer.

Prominent German names were cast: Ralf Richter, Dominic Raacke, Sunnyi Melles, Walter Renneisen, Klaus Wennemann, Jörg Hube, Klaus J Behrendt, Dominique Horwitz, Nina Petri, and the wonderful old Rudolf Schündler—those alone were recommendations. And there was an interesting new discovery: Claude-Oliver Rudolph. Strange: I remembered that he was in the cast, but I completely forgot that he actually played the lead role: the 17-year-old Polish farmer Bruno Kruska. Lured to the Ruhr region by recruiters, he wants to work at the Siegfried coal mining plant without having any idea what that actually means: a mine. Bruno is an inscrutable figure, but he has his principles. He settles in quickly, and it becomes clear just as quickly that he is unwilling to be taken in by anyone, even in the face of resistance. This is a combination of characteristics worth seeing. You live and age with Bruno from the beginning of the series until his death in the second season; he is a sympathetic figure and at the same time a guy you don't want to mess with. In one situation, he even allows himself to be carried away, out of revenge, by having an overman fall into a staple pit from which he can't escape. This is murder, but has no consequences for Bruno. -- TV director Dieter Wedel later cast Rudolph several times with extremely dangerous thugs, which on the one hand seems authentic, but also limits his acting range.

It's not just Bruno Kruska who gives you a strange feeling. You want to sympathize with the protagonists, you follow their often twisted lives and fates, and yet they remain strangely distant; you're curious to see what they'll do next, and yet ultimately you remain rather uninvolved.

We would describe the series' narrative style today as "horizontal," but back then, that term didn't exist. The episodes build on each other, their order is imperative. For example, at the end of the first season, the miners prevent the mine headframe from being blown up by occupying the mine and even confronting the approaching soldiers. At the end of the second season, in 1949, it is blown up after all: its collapse is thrown at the protagonists' feet like the uncertain future itself.

Also remarkable is the twist of not wanting to treat the Nazi era (which the series, of course, cannot avoid) as an abstraction, or simply letting the usual swastica flags fly or Nazi uniforms parade across the screen. Instead, one event is directly linked to one person: Bruno's son Max, who initially sympathizes with the Nazis, witnesses a boy, probably around 12 years old, stealing a loaf of bread, being caught by a well-known SS man and hanged in front of the assembled pit workers. Everyone stands there, everyone watches, including Max. Several clench their fists; everyone could intervene, but no one does. This experience sticks with Max and ultimately leads him to an admission of guilt, which I won't reveal here, but which will resonate for a long time.

Differences between then and now? Our viewing habits have changed, and this has repercussions for filmmaking. Some things that I didn't even notice back then, in the early 1980s, are clearly noticeable when I rewatch it today: Rote Erde is considerably long, some scenes were drawn out endlessly, even though you've long since understood what they're about. Births, like rapes, are depicted on an epic scale. Many characters, as already mentioned, are very simplistic and have to make do with two characteristics and just as many facial expressions. Above all, there's constant shouting. This seems to have been a quirk of German actors and directors since times immemorial; even Kurt Tucholsky in the 1920s was amused by the fact that German actors were constantly shouting. In Rote Erde, too, hysteria is too often used as a stylistic principle, confusing excitement with suspense. It also becomes annoying after a while that every night at the bar ends in a senseless drunken bout followed by a brawl. Of course, a series like this should and must depict the misery of the workers, the social injustice, their enforced lack of education, their mostly miserable living conditions, and the working world based on command and obedience—but do they really need to be further exaggerated by making the entire series' color scheme gray, brownish, and gloomy? And because that's not enough, it has to rain heavily again and again.

It quickly becomes apparent that the entire series is quite left-leaning – typical of this is the almost caricatured portrayal of the Social Democrat Karl Boetzkes, played by Dominique Raacke – a politically swaying flag, never averse to compromise. He is not taken seriously as a character by the writer and director, while the miners always seem ideologically entrenched in their political leanings. It is this unquestioned matter-of-factness that is disturbing here; one would not do it this way today anymore. More nuanced characters, such as the district overman and later steel mill owner Rewandowski, are rare, but even he, too, remains a strangely one-sided character, always portrayed in a latently negative way, even though – as becomes apparent during a mine fire – he immediately knows his place: at the head of the first rescue team. He is not a pleasant character, but he remains true to his convictions, and when he realizes that his convictions are no longer in demand, he draws the classic conclusion. Even the chaplain (played by Jörg Hube), who is respected by the workers, is simply transferred to another village at some point and then reappears only briefly, without us ever learning the reason for his transfer. This could have been a bit more clearly.

The historical truth of all these depictions is debatable anyway; Rote Erde is not a documentary and doesn't intend to be one. In any case, the series' left-wing perspective was considered progressive in the early 1980s, it was standard for German television productions. I didn't really notice it back then, but I do now. Although, to be clear, there's nothing wrong with partisanship and sympathy, it certainly could have been a little less intrusive.

Rote Erde was, in a sense, a precursor to Edgar Reitz's masterpiece, the Heimat trilogy, the first season of which aired in 1984.



The two projects didn't copy each other; they couldn't have, as they were partly filmed concurrently. Comparing the two projects (Heimat didn't call itself a "series" and rightly so) is nevertheless obvious and illuminating, as it clearly shows how different the approaches were. While Stripp/Emmerich rely heavily on a "general picture," on atmospheres that permeate (not to say weigh on) the entire series, Edgar Reitz (who was both director and screenwriter) relies much more on the characters in Heimat from the very beginning. There are also some long stretches in Heimat, but Reitz has a different perspective than Emmerich. And although the world wars and the Nazi era can't be omitted here too, there are hardly any clichés, no "types"; almost all of the characters are conceived individually, with their own minds and their own ideas about life. Even if you don't necessarily always share these ideas, paths, wrong turns, and very lively relationships emerge that you immediately empathize with them and experience – an effect that is practically nonexistent in Rote Erde.

No commercial broadcaster would ever have even considered series like these two, not even Netflix, although its series offerings had a reputation like thunder a couple of years ago. (Seen from now, one might say that even Netflix was just cooking with water, and now one sometimes gets the feeling that even that has been thinned down.) In the 1980s, projects like these were still possible. But the third season of Heimat (2002/2003) was already completely botched by ARD because those in charge considered it more important to make it fit the programming schedule than to give it the space it needed. The result was that only the DVD version reflected the director's intentions, and the TV broadcast was a flop. And that, unfortunately, was very typical. 


Last but not least: What lured me to the television in 1983 to watch Rote Erde wasn't the film at all, it was the music. It was, I had read, composed by Irmin Schmidt (I certainly don't need to explain who that is to the readers of this blog). It was this wonderfully melancholic title music that immediately grabbed me and made me want to stay tuned. It hasn't lost any of its charm.

Irmin Schmidt, I daresay, is one of the best film composers in the German-speaking world; he had already worked with Klaus Emmerich on other series before this one. (A commentary by Emmerich can be found in the book "All Gates Open -- The Story of Can" by Rob Young on page 531.) With his film music work, Schmidt also kept his group CAN afloat. His music for the Rote Erde seasons featured prominent names like Michael Karoli, John Marshall, Max Lässer, Gerd Dudek, David Johnson, and Manfred Schoof. Back then, in the pre-CD era, the soundtrack was available on LP. Luckily, I still have it; the score was never re-released in its entirety either on CD or on streaming services; only Schmidt's first film music anthology contains a few tracks. Which is a shame, because some of the music gets under your skin even without the accompanying images—such as "Trauermusik" (Funeral Music) from the first season, or "Es geht ein Schnitter" (There Goes a Reaper) from the second. In the latter, Michael Karoli overlays a very minor-key electric piano and violin motif with a long guitar feedback that literally rips through your soul. And yet the title track itself is the kind of music you wake up to in the morning without knowing where it came from. In his music, Schmidt finds a perfect balance between the simple instrumentation available in the film's fictional time period and contemporary electronics and alienation effects. This makes the music credible without falling into false folksy territory.

To answer the initial question of whether the series is still worth watching today: Yes, definitely yes, despite all the objections and qualifications. And as it happens, you don't even have to buy the DVD box sets - all Rote Erde episodes are available here on YouTube (but no english subtitles -- sorry!). 

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Sunday, May 4, 2025

A Brief History of New Music

 

 
 
Hans Ulrich Obrist is a Swiss critic and curator, since 2026 at Serpentine Gallery, London. His first contact to the world of arts happened when he visited Swiss artists Fischli & Weiss at their studio when they were busy with their now famous video Der Lauf der Dinge. Later he met Gerhard Richter in his studio and traveled through Europe from interview to interview for around six years, in 1993 he started the arts association "museum in progress". Since then there was probably no artist of relevance he didn't talk to.
 
Composers and musicians have always been part of it. He recorded nearly 2000 hours of interviews; he called this project "an endless conversation". 
 
This book, A Brief History of New Music from 2015, contains a sort of "best of" from those interviews. Partitioned into sections "Avant-Garde Composers", "The Birth of Electroacoustic Music", "Minimalism & Fluxus" and "Modern Masters" there are 17 interviews, among them Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Iannis Xenakis, Robert Ashley, Pauline Oliveros, Terry Riley, Steve Reich, Yoko Ono, Brian Eno, Ralf Hütter and Caetano Veloso.
 
Every single one of these interviews is carefully prepared; Obrist knows what the interviewees did, he knows about their background, and he knows what to ask them. But he also knows when it's better to let them talk, which sometimes can lead to highly interesting statements nobody could have planned before. Some of the interviews -- especially the ones with Stockhausen and Reich -- are extremely interesting and concentrated (I used a lot of the Stockhausen interview here), Brian Eno has some interesting things to say about songwriting, Steve Reich's tape compositions and their influence on his own Music for Airports, some other interviews are a little bit so-so, sometimes -- like with Arto Lindsey -- one gets the impression that this guy is in a bad mood or not willing to talk much. Kraftwerk's Ralf Hütter says exactly what he wants to say and not a syllable more, in the end he comes up for the umpteenth time with his fairytale of 168 weekly working hours at their studio. (But to be fair: What he's talking about is in fact the phenomenon that a creative artist has always something going around in his head about projects, may it be in the foreground, may it be on the second track, but it never stops, it's always there.) And as Obrist knows this phenomenon, his most-asked question is: "What project are you working on currently, and are there any projects you would like to do and couldn't realize yet?" The answers to this question are usually the most interesting ones. 

Of course the interviews are edited, but anyways, reading "spoken word" can sometimes be a bit stressful. But it's worth the effort. My only complaint: The introductions to the interviews are printed in a nearly unreadable small face. As there is no lack of space, this is simply annoying.
 
Hans  Ulrich Obrist:
A Brief History of New Music
JRP/Ringier Kunstverlag, Zürich 2015
ISBN 978-3-03764-190-3
Book in English language, 300 pages
 
 

Saturday, May 3, 2025

Klaus Schulze: Bon Voyage

(English translation: please scroll down)

Dass uns Klaus Schulze verlassen hat, ist nun auch schon wieder drei Jahre her. Auf Neuerscheinungen mussten die Fans dennoch nicht lange warten, und produktiv, wie er war, ist anzunehmen, dass noch manches folgen wird.

Ich meine mich zu erinnern, Schulze dreimal live gesehen zu haben: Erstmals 1977 im Hamburger Audimax, damals noch mit dem Big Moog auf der Bühne, gerade stand sein Jubiläumsalbum X. vor der Tür, für das überall im Audimax kleine Werbeaufkleber herumflogen. Ich erinnere das Konzert als atmosphärisch stark. Das zweite Mal war 1981 ebenda, mit dem Gitarristen Manuel Göttsching und erstmals mit dem damals neuen GDS-Computer. Und dann war da noch ein drittes Konzert, diesmal in der Fabrik mit einem Fairlight und dem Gast Rainer Bloss, der inzwischen den GDS übernommen hatte; es müsste wohl 1985 gewesen sein. Mir in Erinnerung vor allem wegen des Vorhangs, der sich mehrere Minuten lang nicht öffnen wollte. Relativ aktuell war da noch das Live-Album Dziekuje Poland, eingespielt von eben diesem Duo.

Mit Deus Arrakis hatte Klaus Schulze ein verdammt starkes letztes Album hinterlassen, danach veröffentlichten seine Erben noch die Filmmusik 101, Milky Way aus dem mir nicht bekannten Film "Hacker". Nun haben die Erben erneut ins Archiv gegriffen und den Mitschnitt des Audimax-Konzertes von 1981 ausgegraben: Bon Voyage heißt das gute Stück, zwei CDs und eine DVD.

 

Ich habe damals nicht mal bemerkt, dass das Konzert gefilmt wurde, und tatsächlich war das Video eigentlich nur dazu gedacht, den beiden Musikern einen Eindruck zu vermitteln, wie sie auf der Bühne aussahen. So muss man die DVD denn wohl auch sehen: als eine Erinnerung an den Auftritt, qualitativ ist es weder technisch noch in der Bildführung besonders gelungen. Auch der Ton ist eher mäßig, aber das macht nichts, denn dafür sind ja die CDs (bzw. die Doppel-LP) da, und an deren Qualität gibt es nichts zu bemängeln. Dazu gibt es ein gut gemachtes Booklet mit bis dahin unveröffentlichten Fotos und Liner Notes von Claus Cordes in deutsch und englisch. Wer das alles nicht braucht: Den Ton gibt es auch bereits auf den üblichen Streamingdiensten.

Es ist ein bisschen dreist, dass nur Klaus Schulze auf dem Cover genannt wird, denn tatsächlich stand die gesamte Zeit hindurch auch Manuel Göttsching mit seiner Gitarre auf der Bühne. Dass er ein exzellenter Gitarrist war, muss nicht extra betont werden. Leider nutzt er das Instrument fast ausschließlich zum Ansteuern eines Gitarren-Synthesizers. Diese Geräte waren damals noch sehr schwer zu bändigen; mir fallen auch nur zwei Gitarristen ein, die das wirklich draufhatten: Steve Hillage und Pat Metheny, und irgendwie kommt mir Manuel hier ein bisschen in den Hintergrund gemischt vor -- mehr, als er es eigentlich verdient gehabt hätte. 

Klaus Schulze war nie ein großer Tastendompteur, das zeigt sich nicht zuletzt im Video sehr deutlich. Sein Talent bestand vielmehr darin, sich sehr effektiv die Technik zunutze zu machen, um einen eigenen, unverwechselbaren Stil zu entwickeln. Den hatte er schon recht früh ziemlich exklusiv, und er wich davon auch kaum je ab. 

Musikalisch fiel das hier vorliegende Konzert in die Zeit der Alben Dig It und Trancefer. Das war die Zeit, in der Schulze vom analogen zum digitalen Equipment wechselte, und das ist unüberhörbar. Der GDS-Computer der italienischen Firma Crumar beherrscht die Szene. Ein großer Erfolg war dieser Kiste nicht beschieden; meines Wissens sind nicht mehr als zehn dieser Geräte gebaut worden (andere Besitzer waren Wendy Carlos und Chris Franke). Statt der bis dahin gewohnten warmen Analogklänge hörte man nun kühle Digitalsounds. Das war gewöhnungsbedürftig, und es ist offensichtlich, dass Schulze den Computer noch nicht wirklich auszureizen verstand. Das ganze Konzert bewegt sich in durchgehend hohem Tempo, und immer wieder grüßen die beiden obengenannten Alben durch, streckenweise, wenn mich nicht alles täuscht, sogar inklusive der von Michael Shrieve für Trancefer eingespielten Percussion, die hier als Sample mitläuft. Tatsächlich ist Trancefer für mein Gefühl eines von Schulzes besten Werken, aber so richtig überträgt sich dessen Stimmung nicht auf die Bühne.

Anyway, wer Klaus Schulze nie live gesehen hat, kann das hier nachholen. Das ganze Set kostet gerade mal 16 Dollar, da kann man wirklich nicht viel falsch machen.

 

 

It's been three years now since Klaus Schulze left us. Fans didn't have to wait long for new releases, though, and given his prolific nature, it's safe to assume there's more to come.

I seem to remember seeing Schulze three times on stage: The first time was in 1977 in Hamburg's Audimax, back then still with the Big Moog on stage. His anniversary album X. was just about to be released, and little promotional stickers were flying all around at the Audimax. The concert had a strong, captivating atmosphere. The second time was in 1981, at the same place, with guitarist Manuel Göttsching and, for the first time, with the then-new GDS computer. And then there was a third concert, this time at the Fabrik with a Fairlight and guest Rainer Bloss, who had since taken over the GDS; it must have been in 1985. I remember it mainly because of the curtain that wouldn't open for several minutes. Relatively recent was the live album Dziekuje Poland, recorded by this very duo.

Klaus Schulze left behind a pretty strong final album with Deus Arrakis, after which his heirs released the film score 101, Milky Way from the film "Hacker," which I didn't see. And now the heirs have delved into the archives again and unearthed the recording of the 1981 Audimax concert mentioned above: Bon Voyage is the title of this fine piece, two CDs and a DVD.
 
At that evening, I didn't even notice that the concert was being filmed, and in fact, the video was actually only intended to give the two musicians an impression of what they looked like on stage. That's probably how you should view the DVD: as a memento of the performance; it's not particularly good in terms of quality, neither technically nor in terms of cinematography. The sound is also rather mediocre, but that doesn't matter, because that's what the CDs (or rather the double LP) are for, and there's nothing to criticize about their quality. There's also a well-made booklet with previously unpublished photos and liner notes by Claus Cordes in German and English. If you don't need all that, the audio is already available on the usual streaming services.

It's a bit cheeky that only Klaus Schulze is mentioned on the cover, because Manuel Göttsching was actually on stage with his guitar the entire time. It goes without saying that he was an excellent guitarist. Unfortunately, he uses the instrument almost exclusively to control a guitar synthesizer. These devices were still very difficult to tame back then; I can only think of two guitarists who were truly adept at this: Steve Hillage and Pat Metheny. Somehow Manuel seems a bit relegated to the background here—more than he actually deserves.

Klaus Schulze was never a great keyboard tamer, as is clearly evident in the video. His talent lay rather in his ability to use technology very effectively to develop his own, unmistakable style. He had this style quite exclusively from his earliest albums, and he rarely deviated from it.

Musically, this concert took place during the era of the albums Dig It and Trancefer. This was the time when Schulze switched from analog to digital equipment, and this is unmistakable. The GDS computer from the Italian company Crumar dominates the scene. This machine wasn't destined to be a great success; to my knowledge, no more than ten of these devices were ever built (other owners were Wendy Carlos and Chris Franke). Instead of the warm analog sounds we were used to, we now heard cool digital sounds. This took some getting used to, and it's obvious that Schulze hadn't yet fully grasped the computer's capabilities. The entire concert moves at a consistently high tempo, and the two aforementioned albums echo through and through, at times, if I'm not mistaken, even including the percussion recorded by Michael Shrieve for Trancefer, which is included here as a sample. In fact, I think that Trancefer is one of Schulze's best works, but its atmosphere didn't really translate to the stage on this evening.

Anyway, if you've never seen Klaus Schulze live, you can catch up here. The whole set costs just $16, so you really can't go wrong. 
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Wednesday, March 19, 2025

Das fidele Grab an der Donau

 

(Scroll down for english language)

Als das fidele Grab an der Donau hat der Schriftsteller Alfred Polgar damals sein Wien beschrieben. Dieser Satz hat viele Dimensionen. Nicht zuletzt ist er der Titel eines Buches von Georg Stefan Troller, im Untertitel "Mein Wien 1918 - 1938".

 

 

Der Filmemacher, geboren 1921, nimmt uns in diesem Buch mit auf eine Reise durch die Zeit zwischen den Weltkriegen, dokumentiert sie in Zeitzeugenaussagen, Zeitungsartikeln, Filmen, Kabarett, und nicht zuletzt durch seine eigenen Erinnerungen -- er war damals schon um die 80, hatte also reichlich davon (heute ist er 103!). Und sie sind keineswegs nur romantisch, sondern Resultat scharfer Beobachtung und eines bisweilen harten, polemischen Humors, wie man es auch aus seinen Filme kennt. Anders wäre die Geschichte auch nur schwer zu ertragen. 

Dieses Buch ist bereits 2004 erschienen. Ich, alter Wien-Fan, habe es damals gekauft und irgendwie im Regal vergessen. Jetzt habe ich es wiederentdeckt -- was für eine Entdeckung! 

Und wie verdammt aktuell sie ist.

Das alte Café Central ist der Ausgangspunkt. Das "alte", das "klassische" Wien, das Wien der Caféhäuser, das Wien der Zwischenkriegszeit, der zerfallenden Restbestände der K.u.k.-Monarchie, um sie geht es. Man liest, wie Wien versuchte, nach dem Ersten Weltkrieg so etwas wie eine neue Identität aufzubauen, die dann aber in Jahre des Verschweigens und Verfälschens mündete. Es geht um die Vergeblichkeit solcher Bemühungen, um die an sich selbst verzweifelnde (gelegentlich auch selbstmitleidige) Kulturszene jener Jahre. Denn in Wirklichkeit war natürlich nichts so, wie es zu sein schien, und alle Bemühungen führten -- nun ja, man weiß, wohin sie führten. Der Autor erspart uns das nicht.

Auslöser war ein Filmdreh. Troller, dem wegen des geplanten Abrisses der Zugang zum alten Café Central behördlich verwehrt wurde, ließ sich mit seinem Filmteam heimlich im Gebäude einschließen und wurde nächtens in einem Kellerraum fündig: Dort fand er sie aufbewahrt, die Überbleibsel des alten Caféhauses, die Tische, die Schachbretter, Garderobenständer, Geschirrteile, die alte Kasse, "sogar eine Originalnummer des expressionistischen Sturm", und unter dem Teppich ein Mosaik: "Eingang Café Central". Damit beginnt das Buch, "Der Neubeginn 1918 - 1924" heißt das Kapitel, und man ahnt bereits dort, dass der Neubeginn keiner sein wird. 

Das Café Central war, wie Polgar sagt, gelegen "unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen."

 


Wir begegnen den klingenden Namen damaliger Stammgäste: Schnitzler, Werfel, Kraus, Musil, Kisch, Kuh, Torberg, Friedell, Klimt, und und und. Ein intellektueller, überwiegend jüdischer Zirkel. 

Eine große Zahl ebenso großer Namen fliegt en passant vorbei, von Fritz Lang bis zu Conrad Veidt, von Gustav Mahler bis zu Arnold Schoenberg, von Kurt Tucholsky bis zu Erich Kästner. Ein spezieller Favorit Trollers ist der jüdische Kabarettist und Autor Jura Soyfer, "der Wundermann" (Troller), dessen Weg quer durch das ganze Buch immer wieder beleuchtet wird. In jenen Zwischenkriegsjahren gehörte Soyfer zu den produktivsten Wiener Satirikern, im winzigen Kabarettkeller ABC fand man ihn ebenso wie im renommierten Ronacher. Seit Urzeiten habe ich Soyfers literarisches Werk im Regal stehen, zwei schmale Bände, Lyrik und Prosa. Denn zu mehr kam er nicht: Beim Versuch, auf Skiern in die Schweiz zu flüchten, wurde er entdeckt. Er starb 1939 im KZ Buchenwald. (Die Wiener Band Schmetterlinge widmete ihm eines ihrer besten Alben: Verdrängte Jahre -- Österreich zwischen den Kriegen; erschienen 1981; mit etwas Glück kann man die LP manchmal noch gebraucht finden.) 

"Geh'ma halt a bisserl unter" heißt einer von Soyfers bissigen Kabaretttexten. Er weist den Weg in den Fortgang der Geschichte: in den Untergang, der sich dann aber leider nicht nur als a bisserl erwies. Am Anfang stand, was Karl Kraus als "Die Ratten betreten das sinkende Schiff" bezeichnete -- die vor den aufkommenden Nazis nach Österreich fliehenden Deutschen nämlich. Ihre Flucht half ihnen nicht, denn die Fluchtursache folgte ihnen -- und sie wurde willkommen geheißen.

Troller schildert dieses Umkippen der österreichischen Gesellschaft bis 1938. Er selbst gehörte zeitweilig zur Bündischen Jugend: "Wir waren inmitten von lauter fanatischen Mitläufern, sowas wie ein Stück Basisdemokratie: Frühhippies, Ökologen, Aussteiger, Widerständler, Selbstverwirklicher." Es war eine sehr ambivalente Bewegung. Sie ließ sich in Teilen einkaufen, und damit passte sie ins allgemeine Bild dessen, was sich da zusammenbraute. Troller schildert die immer weiter zunehmende Bereitschaft der Österreicher, sich mit den neuen Herren zu arrangieren. Ihre Gemeinheit, ihre Kleinkariertheit, die Politisierung jeder gesellschaftlichen Banalität, der zunehmende Antisemitismus, der in offenen Judenhass kippte.

Und jeder, der heute mit offenen Augen durch die politische Landschaft läuft, wird zusammenzucken, wie aktuell das alles wirklich ist.

 

Georg Stefan Troller:
Das fidele Grab an der Donau
Mein Wien 1918 - 1938
(mit zwei Fotostrecken)
Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2004
ISBN 3-783538-07188-9


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The merry grave at the River Danube: This is how the writer Alfred Polgar then described his Vienna. This sentence has many dimensions. Not least, it is the title of a book by Georg Stefan Troller, subtitled "My Vienna 1918-1938."

 


In this book, the filmmaker, born in 1921, takes us on a journey through the period between the world wars, documenting it through eyewitness accounts, newspaper articles, films, political cabaret, and not least through his own memories – when he wrote this book, he was around 80 years old, so he had plenty of them (now he's 103!). And they are by no means merely romantic, they are the result of keen observation and an occasionally harsh, polemical humor, as one also knows from his films. Otherwise, the story he tells here would be hard to bear.

This book was published in 2004. As a long-time Vienna fan, I bought it back then, but somehow forgot it on the shelf. Now I've rediscovered it – what a discovery!

And how damn relevant it still is.

The old Café Central is the starting point. The "old," "classical" Vienna, the Vienna of the cafés, the Vienna of the interwar period, the decaying remnants of the Austro-Hungarian Empire—these are the topics at issue. We read how Vienna attempted to build something like a new identity after the First World War, but this ultimately resulted in years of concealment and falsification. It is about the futility of such efforts, about the self-despairing (and occasionally self-pitying) cultural scene of those years. Because in reality, of course, nothing was as it seemed, and all efforts led—well, we know where they led. The author doesn't spare us that.

The trigger was a film shoot. Troller, who was officially denied access to the old Café Central due to its planned demolition, secretly locked himself and his film crew in the building and discovered what he was looking for in a basement room one night: There he found the remnants of the old café: the tables, the chessboards, coat racks, pieces of crockery, the old cash register, even an original issue of the expressionist Sturm magazine, and a mosaic under the carpet: "Entrance to Café Central." This is how the book begins. The chapter is titled "The New Beginning 1918-1924," and one already senses that this will not be a new beginning.

The Café Central was, as Polgar says, located "below the Viennese parallel on the meridian of solitude. Not a café like other cafés, but a worldview, one whose innermost content is not to look at the world. Its inhabitants are mostly people who want to be alone but need company to do so."

 

 

We encounter the illustrious names of regulars from that time: Schnitzler, Werfel, Kraus, Musil, Kisch, Kuh, Torberg, Friedell, Klimt, and many more. An intellectual, predominantly Jewish circle.

A large number of equally great names fly by in passing, from Fritz Lang to Conrad Veidt, from Gustav Mahler to Arnold Schoenberg, from Kurt Tucholsky to Erich Kästner. A particular favorite of Troller's is the Jewish cabaret artist and author Jura Soyfer, "the miracle man" (Troller), whose career is repeatedly illuminated throughout the book. In those interwar years, Soyfer was one of the most prolific Viennese satirists; he could be found in the tiny ABC cabaret cellar as well as at the renowned Ronacher. Soyfer's literary works live on my shelf for ages: two slim volumes, Poetry the one, Prose the other. That's all he was able to finish: He was discovered while attempting to escape to Switzerland on skis. He died in Buchenwald concentration camp in 1939. (The Viennese band Schmetterlinge dedicated one of their best albums to him: Verdrängte Jahre -- Österreich zwischen den Kriegen (Repressed Years - Austria Between the Wars), released in 1981; with a bit of luck, you can sometimes still find a used copy of the LP.)

"Geh'ma halt a bisserl unter" (Let's just have a little downfall) is the title of one of Soyfer's biting cabaret lyrics. In a charmingly sweet Viennese accent, it points the way to the continuation of history: into downfall, which unfortunately turned out to be more than just a little. At the beginning was what Karl Kraus called "The rats boarding the sinking ship" -- which meant the Germans fleeing to Austria from the rising Nazis. Their escape didn't help them, because the reason for their escape followed them -- and it was welcomed.

Troller describes this upheaval in Austrian society up until 1938. He himself was a member of the Bündische Jugend (a political youth organization) at that time: "We were surrounded by a whole bunch of fanatical followers, something like a piece of grassroots democracy: early hippies, ecologists, dropouts, resistance fighters, self-actualizers." But it was a very ambivalent movement. It was partly bought off, and thus fit into the general picture that was going to come. Troller describes the ever-increasing willingness of Austrians to come to terms with the new masters. Their meanness, their pettiness, the politicization of every social banality, the growing anti-Semitism, which tipped into open hatred of Jews.

And anyone who walks through the political landscape today with their eyes open will be shocked at how relevant all of this really is.


Georg Stefan Troller:
Das fidele Grab an der Donau
Mein Wien 1918 - 1938
(Book in German language,
included are two photo galleries)

Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2004
ISBN 3-783538-07188-9




Thursday, March 13, 2025

Kraftwerk, Pittsburgh 03-07-2025

 

 

Kraftwerk

Pittsburgh, Stage AE, March 7, 2025

 


 

(Scroll down for english translation) 

Gerade lese ich ein Interview mit Karlheinz Stockhausen, das er 2004 dem Schweizer Kunstkritiker und -kurator Hans Ulrich Obrist gegeben hat. Immer wieder staune ich, welch ein ungeheures Potenzial von Kreativität und künstlerischer Wachheit der Komponist noch drei Jahre vor seinem Tod, im Alter von immerhin 76 Jahren, zu vermitteln verstand. Bis zuletzt hat dieser Mann immer wieder neue Ideen produziert und neue Kompositionen vorgelegt, elektronische ebenso wie akustische. Und auch über die Live-Präsentation seiner Werke unter räumlichen Gesichtspunkten hat er stets nachgedacht. Das war ein Lebensthema für ihn -- an Gruppen sei erinnert, das drei Orchester im Konzertsaal verteilte und dabei die räumliche Anordnung und Interaktion der Instrumente zum Teil der Komposition machte. Es gab den elektronischen Gesang der Jünglinge, ein fünfkanaliges Werk: Vier Kanäle um das Publikum herum, ein fünfter kam von oben. Mit dem Architekten Fritz Bornemann entwarf Stockhausen ein kugelförmiges Rundum-Auditorium, das zur Expo 70 in Japan gebaut (und danach leider abgerissen) wurde. Oder Sternklang, das fünf teils akustische, teils elektronische Ensembles so weit voneinander entfernt in einer Parkanlage aufstellte, dass die sich gegenseitig gerade noch hören konnten. Das Publikum konnte zwischen den fünf Podien spazierengehen. Es gab Fresco, eine von Stockhausen so bezeichnete "Wandelmusik" für vier Orchestergruppen in mehreren Räumen eines Hauses. Der Opernzyklus LICHT spielte die räumlichen Ideen immer weiter durch, bis hin zu einem Streichquartett in vier fliegenden Hubschraubern. Es gab die achtkanalige Oktophonie, und die ebenfalls achtkanaligen Unsichtbaren Chöre, ebenso das letzte noch von Stockhausen selbst realisierte Werk Cosmic Pulses, in dem die präzise ausgetüftelte räumliche Positionierung und Bewegung von Klängen im Raum in eine Komplexität mündet, die (zugegeben) kaum noch differenziert durchhörbar ist.

An all das musste ich denken, als ich letzte Woche (zum neunten Mal seit 1971!) Kraftwerk auf der Bühne erlebt habe. Denn wenn irgendeine Band wirklich prädestiniert wäre, eine solche räumliche Platzierung und Bewegung von Klängen auf der Konzertbühne und dem Raum drumherum zu realisieren, dann wäre das Kraftwerk. Die Gruppe hat Vergleichbares mit einem 32-kanaligen 3D-Tonsystem namens "Wellenfeldsynthese" zumindest in Ansätzen schon gemacht. Lange Zeit auch wurden die Konzerte mit 3D-Projektionen verräumlicht, ihr letztes Jahr 50 gewordenes Superwerk Autobahn hat die Gruppe soeben als räumlichen Dolby-Atmos-Mix wiederveröffentlicht.

Ich hatte gehofft, die derzeitige "Multimedia"-Tournee der Band durch die USA und Kanada mit 32 Stationen würde irgendetwas in dieser Richtung bieten. Aber die Chance wurde leider nicht genutzt.

Stattdessen wurde die klassische Schuhschachtel-Anordnung präsentiert: Vorn die Musiker in den inzwischen bekannten illuminierbaren Neon-Anzügen vor ihren Pulten auf der LED-bestückten Bühne, hinter ihnen ein elektronischer Großbildschirm mit sehr guter Bildqualität, Lautsprecher links und rechts, eine Subwoofer-Batterie vor der Bühne. Geboten wurden "Greatest Hits", dazwischen auch einige eher selten gespielte Stücke ("Tango", "Ätherwellen").

 

 

 

Hier ist die Setlist:

  • Numbers / Computer World / Computer World 2
  • Home Computer / It's More Fun to Compute
  • Spacelab
  • Airwaves
  • Tango
  • The Man-Machine
  • Electric Café
  • Autobahn
  • Computer Love
  • The Model
  • Neon Lights
  • Geiger Counter
  • Radioactivity
  • Tour de France / Tour de France Étape 3 / Chrono / Tour de France Étape 2
  • La Forme
  • Trans-Europe Express / Metal on Metal / Abzug
Zugaben:
  • The Robots
  • Planet of Visions
  • Boing Boom Tschak / Musique Non Stop

 

 

Dass die Band sich von der 3D-Projektion verabschiedet hat, geht in Ordnung, ich habe sie nicht vermisst, zumal die dafür erforderliche Papp-Brille nach einiger Zeit auch lästig wurde. Auch die "live" auftretenden "Robot"-Kleiderständer sind nicht mehr dabei, sie finden nur noch auf der Projektionswand statt. Dieser Gag war nun auch wirklich allmählich abgeleiert. Interessant, nebenbei bemerkt, dass die Figuren im Film immer noch die Gesichter der früheren Bandmitglieder zeigen.

Kraftwerk ist bekannt für exzellente Soundqualität, und ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Was sie allerdings hier in der "Stage AE" klanglich anboten, war leider einfach Matsch. Die relativ kleine Halle war anscheinend einfach "über-equipped". Eine irre Lautstärke brachte sich überschreiende Höhen, überlagert von Bass-Impulsen der Subwoofer, die Tritten in die Magengrube gleichkamen. Ich habe im Laufe der Jahrzehnte viele Konzerte mit hohen und sehr hohen Lautstärken erlebt und überstanden. Dies war das erste Konzert, nach dem ich nicht sicher war, ob ich einen Trommelfellriss oder einen Hörsturz erlitten hatte und die Emergency aufsuchen sollte. Über Nacht hat sich die Sache wieder halbwegs normalisiert. Eine solche Soundkatastrophe sollte einem routinierten Mischpultmann nicht passieren. Und wenn das dann in der Lokalpresse noch als "Spitzensound" bezeichnet wird, dann frage ich mich, ob die Leute überhaupt noch einen Maßstab dafür haben, was in einem Popkonzert "guter Sound" bedeutet. Oder gilt es mittlerweile schon als solcher, wenn das Publikum von der Subwooferbatterie vor der Bühne nur massiv genug durchgeprügelt wird?

Oder sollten solche Fragen der Band mittlerweile egal sein? Es würde zum Gesamtbild des Abends passen: Etliche kleine Pannen (insbesondere der Neonanzüge) waren zu bemerken, die Lustlosigkeit der vier Herren, die kaum mal von ihren Pulten aufsahen, war ebenfalls nicht zu übersehen. Nach "Trans Europe Express" verließen sie die Bühne, kamen dann aber bereits nach wenigen Sekunden wieder zurück und begannen den Zugabenteil. 

Dem Publikum schien's weitgehend egal zu sein. Auffällig, aber natürlich kein Wunder, dass ein Generationenwechsel sich nunmehr deutlich abzuzeichnen beginnt. Die "Urfans" brechen allmählich weg, dafür wachsen zunehmend hippieske Fans im Highschool-Alter nach. Für sie allerdings scheint Kraftwerk nur noch eine Band unter vielen zu sein. Den historischen Background der Band kennen sie naturgemäß nicht mehr, für sie ist Kraftwerk ein Projekt der elektronischen Tanzmusikwelle. Auch die bei früheren US-Konzerten (Chicago, New York) immer anwesende Black Community, die man bei anderen Konzerten auch in Pittsburgh normalerweise sieht, war an diesem Abend anscheinend anderswo. Vielleicht aber auch nicht erstaunlich -- die Berührungen zwischen Kraftwerk und den schwarzen Musikszenen Detroits, Chicagos oder New Yorks liegen nun auch schon fast ein halbes Jahrhundert zurück; die damals entstandene Street Credibility Kraftwerks ist zwar noch nicht verflogen, aber für die heute aktive Musikergeneration annähernde Steinzeit.

Wer weiß, was Kraftwerk noch in petto hat. Mit größerer Experimentierlust der Band wird man wohl kaum noch rechnen dürfen, Ralf Hütter als letztes Urmitglied der Band geht nun immerhin auch schon auf die 80 zu. Ich denke ja, irgendwann wird sich die Band ganz in den virtuellen Raum zurückziehen. In Ansätzen (Electric Cafe) hat sie das ja schon gemacht, indem sie sich selbst in Gestalt von Wireframes präsentiert haben -- und damit endet auch heute noch jedes ihrer Konzerte. 

Wie auch immer, wer Kraftwerk noch nicht live gesehen hat, sollte die Gelegenheit nutzen. Irgendwann wird es sonst zu spät sein.

 



As it happens, I'm currently reading an interview with Karlheinz Stockhausen, which he gave to the Swiss art critic and curator Hans Ulrich Obrist in 2004. I'm continually amazed at the tremendous potential of creativity and artistic alertness the composer was able to convey just three years before his death, at the age of 76. This man never stopped producing new ideas and presenting new compositions, electronic ones as well as acoustic pieces. And he also constantly thought about the live presentation of his works from a spatial perspective. This was a lifelong theme for him -- think of Gruppen (Groups) which distributed three orchestras placed in the concert hall, making the spatial arrangement and interaction of the instruments a part of the composition. There was the electronic Gesang der Jünglinge (The Younglings' Song), a five-channel work: four channels around the audience, a fifth coming from the ceiling. With the architect Fritz Bornemann, Stockhausen designed a spherical, wrap-around auditorium that was built for the Expo 70 in Japan (and subsequently, sadly, demolished). Or Sternklang (Star Sound), which placed five partly acoustic, partly electronic ensembles in a park so far from each other that they were just able to hear each other. The audience could stroll between the five podiums. There was Fresco, Stockhausen called it a "Wandelmusik" (walking music) for four orchestral groups in several rooms of a house. The opera cycle LICHT (Light) explored spatial ideas even further, culminating in a string quartet in four flying helicopters. There was the eight-channel Oktophonie (Octophony), and the also eight-channel Unsichtbare Chöre (Invisible Choirs), as well as the last work Stockhausen himself could realize, Cosmic Pulses, in which the precisely crafted spatial positioning and movement of sounds in the venue culminates in a complexity that (admittedly) is barely distinguishable.

I was reminded of all this when I saw Kraftwerk on stage last week (for the ninth time since 1971!). Because if any band were truly predestined to realize such spatial placement and movement of sounds on the concert stage and in the surrounding space, it would be Kraftwerk. The group has already done something similar, at least in part, with a 32-channel 3D sound system called "Wave Field Synthesis." For a long time, their concerts were also spatialized with 3D projections; the group has just re-released their masterpiece Autobahn, which turned 50 last year, as a spatial Dolby Atmos mix. 
 
I had hoped the band's current 32-stop "multimedia" tour through the US and Canada would offer something along these lines. But unfortunately, the opportunity was missed. Instead, the classic shoebox setup was presented: At the front end, on stage, the musicians in their now-familiar illuminated neon suits, standing at their desks on the (now also) LED-equipped stage, behind them a large electronic screen with excellent picture quality, speakers on the left and right, and a subwoofer bank in front of the stage. The performance featured "greatest hits," interspersed with some less frequently performed pieces ("Tango," "Aetherwellen").

This was the setlist:

  • Numbers / Computer World / Computer World 2
  • Home Computer / It's More Fun to Compute
  • Spacelab
  • Airwaves
  • Tango
  • The Man-Machine
  • Electric Café
  • Autobahn
  • Computer Love
  • The Model
  • Neon Lights
  • Geiger Counter
  • Radioactivity
  • Tour de France / Tour de France Étape 3 / Chrono / Tour de France Étape 2
  • La Forme
  • Trans-Europe Express / Metal on Metal / Abzug

Encores:

  • The Robots
  • Planet of Visions
  • Boing Boom Tschak / Musique Non Stop

It's okay that the band has abandoned the 3D projection; I didn't miss it, especially since the cardboard glasses required for it became annoying after a while. The real "robot coat racks" are also no longer there; they now only take place on the projection screen. This gag was really starting to get a bit worn out. Interestingly, the characters in the film still show the faces of the former band members.

Kraftwerk is known for excellent sound quality, and I can confirm this from my own experience. Unfortunately, what they offered here in "Stage AE" was anything but that. The relatively small venue was apparently simply "over-equipped." A crazy volume produced distorted treble, overlaid with bass impulses from the subwoofers that were like kicks in the gut. Over the decades, I've experienced and survived many concerts with high and very high volumes. This was the first concert after which I wasn't sure whether I'd suffered a ruptured eardrum or sudden hearing loss and needed to seek emergency medical attention. Overnight, luckily things returned more or less to normal. But such a sound disaster shouldn't happen to an experienced mixing console operator. And when the local press calls it "top-notch sound," I wonder if people even have a standard anymore for what "good sound" means at a pop concert. Or does it now count as such when the audience in front of the stage is pounded hardly enough by the battery of subwoofers?

Or could it be that the band no longer cares about such questions? It would fit the overall picture of the evening: Several minor glitches (especially with the neon suits) were noticeable, and the listlessness of the four men, who barely looked up from their desks, was also obvious. After "Trans Europe Express," they left the stage, but then returned after just a few seconds and began the encore.

The audience largely seemed indifferent. Of course no surprise, that a generational shift is now beginning to be clearly visible. The old "original fans" are gradually disappearing, while a growing number of hippie-like high school-age fans are emerging. For them, Kraftwerk seems to be just another band among many. Naturally, they don't know the band's historical background; for them, Kraftwerk is mainly a project of the electronic dance music wave. Even the Black community, always present at Kraftwerk's previous US concerts (Chicago, New York), and usually seen at other concerts in Pittsburgh, seemed to be elsewhere that evening. Perhaps not surprising, though – the contacts between Kraftwerk and the Black music scenes of Detroit, Chicago, or New York date back almost half a century; Kraftwerk's street cred, which emerged back then, may not have vanished, but it's almost a Stone Age phenomenon for the generation of musicians active today.

Who knows what Kraftwerk has in store. One can hardly expect the band to be more experimental; Ralf Hütter, the last original member of the band, is now approaching 80. I think at some point the band will retreat entirely into the virtual world. They've already done this in some way (Electric Cafe) by presenting themselves in the form of wireframes – and that's how every one of their concerts still ends. 
 
However, anyone who hasn't seen Kraftwerk live yet should take advantage of the opportunity. At some point it will be too late.