Dies ist Netflix' neuester Streich, sechs Folgen aus Andy Warhols Diaries; Dauer zwischen 55 und 85 Minuten.
Nach Valerie Solanas' Attentat auf ihn begann Andy Warhol damit, per Telefon ein Tagebuch zu diktieren. Das gibt es inzwischen leicht redigiert als Buch (von Pat Hackett), und es bildet die Grundlage für diese Miniserie. Weil dessen Inhalt zu umfangreich selbst für sechs Teile ist, hat Regisseur Andrew Rossi sich für einige Schwerpunkte entschieden: Andys Jahre in Pittsburgh, seinem Geburtsort, den er natürlich verlassen musste, um als Künstler etwas werden zu können, und seine ersten Schritte in New York; es geht um New York der 1980er Jahre, insbesondere die Szene ums "Studio 54", Andys Rolle als Portraitist der Promis; das "15-Minutes"-Konzept, AIDS und seinen unerwarteten Tod. Weitaus wichtiger aber sind die Blicke unter die bunte Oberfläche. Andy Warhol war ganz sicher einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, und doch ist es gar nicht einfach, zu beschreiben, was er eigentlich gemacht hat. Zu seinen größten Werken gehört mit Sicherheit seine erfolgreiche Selbstvermarktung, sein Auftreten in der Öffentlichkeit, in deren Wahrnehmung das (bewusst konstruierte) Image den wirklichen Menschen ersetzte.
Diesen wirklichen Menschen gab es aber, und er spiegelt sich in seinen Liebes- und anderen persönlichen Beziehungen. Die sind das eigentliche Schwerpunktthema; verbunden mit den Namen Jed Johnson, Jon Gould, Jean Michel Basquiat und noch einigen anderen. Dass Andy schwul war, wurde zu Beginn seiner Karriere verdrängt, es gelangte nicht in die Öffentlichkeit -- was interessant ist, denn in seinem Werk springt einem seine Homosexualität ja förmlich ins Gesicht, und zwar von Anfang an, und sie blieb immer sichtbar. Das Ganze wird anhand von Fotos, vielen Filmschnipseln und -- soweit möglich -- mit Zeitzeugeninterviews dokumentiert, wobei es sich auszahlt, dass Andy fast nichts, was er tat, ungefilmt oder unfotografiert ließ. Wo es gar kein Material gab, da greifen die Folgen zu kurzen Reenactments; etwa in jenem Vorkommnis, als während einer Autogrammstunde eine Besucherin Andys Perücke von seinem Kopf riss. Andys Tod, verursacht durch die Nachbehandlung seiner Gallenblasenoperation, nimmt fast die halbe letzte Folge ein und wird reichlich tränenreich serviert. (Die Schmerzen, unter denen er zeitweilig gelitten haben muss und die man ihm auch hier im Film ansieht, kann ich verdammt gut nachvollziehen; anders als er allerdings habe ich die OP dankenswerterweise überlebt.)
Die Serie hat Längen; mehr als einmal habe ich gedacht, sechsmal 45 Minuten hätten es auch getan. Sehenswert sind die Andy Warhol Diaries dennoch, auch wenn ich mir nicht klar darüber bin, ob ich Warhol nun wirklich besser kenne als vorher. Denn natürlich war die Veröffentlichung der Diaries von Anfang an geplant, und entsprechend dürften sie abgefasst worden sein: Wir erfahren also wieder nur das, was Andy uns wissen lassen wollte, und das könnte trotz seiner scheinbaren Ausführlichkeit durchaus wieder nur die nächste Schicht eines Tarnanstriches sein. In der Serie verblüfft der Kniff, den von Bill Irwin gesprochenen Originaltext aus dem Buch mit Hilfe eines Künstlichen-Intelligenz-Verfahrens so zu bearbeiten, dass er fast wie Andys wirkliche Stimme klingt -- allerdings wirklich nur fast, es bleibt stets ein ein etwas blecherner Hauch von Künstlichkeit. Ein Soundtrack-Album gibt es bislang nicht. Sollte es einmal eines geben, werden darauf einige Schätzchen der 1980er Jahre zu hören sein. Und dass der sechste Teil mit Bowies "Loving The Alien" endet, ist passend.
Andys Grab befindet sich in einem Vorort von Pittsburgh, unter ständiger Aufsicht einer Webcam -- Andy hätte vermutlich seinen Spaß daran. Irgendwann in diesem Sommer, das habe ich mir vorgenommen, werde ich es endlich einmal besuchen.
(Dieser Post wurde zuerst veröffentlicht auf manafonistas.de)