Bye bye, Manuel ...
You will be missed.
Here are 4 minutes from NPR Radio, USA.
Dieses Prinzip funktioniert so: Der Anfang einer Geschichte muss stimmen und für die Zuschauer/-hörer nachvollziehbar, im günstigen Fall überprüfbar sein und mit ihrem Wissen übereinstimmen. Personen und Schauplätze müssen wiedererkennbar sein, idealerweise wirklich, zumindest aber als Idee. Nun kommt aber die Phantasie hinzu. Sie liefert den Grund, aus dem die Geschichte überhaupt erzählt wird, und dazu reichen Tatsachen allein nicht aus. Die Geschichte geht weiter, steigert sich, ist eigentlich bereits eine Lüge, aber bleibt immer der Wahrheit so ähnlich, dass man weiter dranbleibt, ohne das Gefühl zu haben, dass man hochgenommen wird.
Der Regisseur und Autor Edgar Reitz hat dieses Prinzip von seinem Großvater gelernt, der ein begnadeter Geschichtenerzähler gewesen sein muss. Das Großvaterprinzip zieht sich nicht nur durch Reitz' Filme, sondern wie ein roter Faden auch durch Filmzeit, Lebenszeit, Edgar Reitz' Erinnerungen, die er sich und uns als Klotz von 670 Seiten zu seinem 90. Geburtstag spendiert hat.
Ich will mal nicht unterstellen, dass Reitz das Großvaterprinzip auch auf seine Erinnerungen angewandt hat, obwohl man ja weiß, dass nirgendwo so viel gelogen wird wie in Autobiografien, oder in Tagbüchern, die bereits mit Sicht auf eine spätere Veröffentlichung verfasst worden sind. Reitz war Dokumentar- und Werbefilmer und gehörte zu den Protagonisten des Slogans "Papas Kino ist tot", der die Oberhausener Kurzfilmtage 1962 in dauerhafte Erinnerung brachte. Er gehörte zu den Begründern des "Autorenfilms", dessen Idee war, dass die Arbeitsvorgänge des Drehbuchschreibens, der Regie und der Produzententätigkeit in eine Hand gehören sollten. Dass das nicht immer funktioniert, wurde schnell offensichtlich, weil dazu jeweils unterschiedliche Talente gehören, die keineswegs notwendigerweise immer zusammen auftreten. Aber die Bewegung enstand, und Reitz war ein Teil davon. Interessant ist die Reaktion der damals etablierten Autoren -- Walser, Grass, Bachmann & Co. -- auf deren Auftreten: Arroganz und Wut wäre noch freundlich ausgedrückt. Sie sahen Film nicht als Kunstform, sondern noch als Jahrmarktsvergnügen an. Mit solcherart Bräsigkeit hatten Reitz, Kluge, Fassbinder etc. immer wieder zu tun.
Hauptsächlich wurde Reitz aber durch seine monumentale Heimat-Trilogie bekannt. Die Arbeit daran nimmt denn auch den größeren Teil des Buches ein. Jeder, der die drei Filmreihen gesehen hat (ich mag sie nicht als "Serien" bezeichnen, obwohl sie das faktisch sind), hat natürlich zumindest geahnt, dass Reitz da viel Autobiografisches eingebaut hat. Die Autobiografie legt nun offen, wie viel das tatsächlich ist -- man nimmt es einerseits mit Erstaunen, aber ebenso auch mit leisem Erschrecken wahr. Aber genau das ist in der Tat das Großvaterprinzip. Es ist das, was diese Filme bei aller gelegentlichen Verdrehtheit packend und glaubwürdig macht. Bei Reitz kommen die genannten Talente tatsächlich zusammen: Er ist nicht nur ein hervorragender Regisseur, nicht nur ein guter Produzent, der für seine Projekte die richtigen Leute findet, sondern er ist auch ein großartiger Geschichtenerzähler, der seine Storys zu Papier zu bringen weiß. Langeweile tritt in dem Buch nur dann auf, wenn sich Reitz allzu offensichtlich selbst auf die Schulter klopft -- ein bekanntes Autobiografienphänomen, aber hier ist es auszuhalten.
Die Arbeit an der Trilogie ist eine Abenteuergeschichte. Insbesondere schüttelt man den Kopf über das Verhalten gewisser Fernsehverantwortlicher, denen es gelungen ist, die Heimat-Filme durch ungeschickte Platzierung im Programm (Die Zweite Heimat) und Kürzungsforderungen, die einem die Haare zu Berge treiben (Fernsehfassung von Heimat 3) in den Sand zu setzen -- und dann noch Reitz öffentlich die Schuld am angeblichen "Misserfolg" in die Schuhe zu schieben, während die Filme von der Presse wie vom Publikum weltweit enthusiastisch bejubelt wurden. Nun ja, schon Tucholsky sah diese Redakteursspezies als Leute, die auf ihren Stühlchen sitzen und in erster Linie Angst haben -- Leute, die nicht ansatzweise könnten, was Autoren, Regisseure und Schauspieler leisten, aber über die Macht verfügen, den Daumen zu heben oder zu senken und deshalb glauben, sie seien von auch künstlerisch von Bedeutung. Es ehrt Reitz, dass er sich verkneift, die Betreffenden mit ihrem Namen zu nennen. (Ich will es hier auch nicht tun, aber jeder, der die deutsche Fernsehlandschaft der 1980er und 1990er Jahre kennt, weiß, wer gemeint ist.) Umso mehr staunt man über die unendliche Geduld, mit der Reitz an seinem Werk gearbeitet hat. Und weshalb er den Nachzügler Die andere Heimat vorrangig als Kinoprojekt ohne Fernsehhilfe gemacht hat.
Filmzeit, Lebenszeit ist exzellent geschrieben, und auch, wenn man einige Dinge vielleicht so genau dann doch nicht wissen wollte, jede Leseminute wert. Danke, Großvater.
1. Daniel Lanois: Player, Piano
2. Klaus Schulze: Deus Arrakis
3. Brian Eno: Foreverandevernomore
4. Esbjörn Svensson: Home.S
5. Björk: Fossora
6. Michael Wollny Trio: Ghosts
7. Stromae: Multitude
8. Wolfert Brederode, Matangi Quartet, Joost Lijbaart: Ruins & Remains
9. Steve Reich: Reich/Richter
10. Creedence Clearwater Revival: At Royal Albert Hall, April 14, 1970
Auch gut:
Weyes Blood: And In The Darkness, Hearts Aglow
Roger Eno: The Turning Year
Gong: Pulsing Signals
Jean-Michel Jarre: Oxymore
Geir Sundstol: The Studio Intim Sessions, Vol. 1
Wiederentdeckt:
Anouar Brahem: Blue Maqams (2017)
Redbone: Very Best (1991)
Yukihiro Takahashi: Neuromancer (1981)
V.A.: Festival Express (Film, 1970)
Die Doppel-DVD "rockumentiert" die Tournee etlicher Gruppen durch Kanada, die 1970 stattfand: Grateful Dead, Janis Joplin, The Band, aber auch Acts, die heute so gut wie unbekannt sind, etwa Buddy Guy, die Flying Burrito Bros, Ian & Sylvia's Great Speckled Bird, Mountain, Delaney & Bonnie & Friends. Das ist fast interessanter noch als der Woodstock-Film, wie erleben hier nicht nur die Konzerte, sondern auch die Zugfahrt von einem Festivalort zum jeweils nächsten. Dazu gibt es heutige Statements von einigen der beteiligten Musiker, auch dem Veranstalter.
Redbone habe ich kürzlich durch Zufall wiedergehört -- "The Witch Queen Of New Orleans" haben wir vermutlich noch alle im Ohr, aber das war durchaus nicht alles, was die Jungs draufhatten.
Yukihiro Takahashi war der Drummer des Yellow Magic Orchestra und konnte es an Präzision mit Jaki Liebezeit aufnehmen. Neuromancer ist ziemlich dicht am YMO-Sound, aber kein Abklatsch.
Und Anouar Brahems Spiel ist einfach ein Genuss.
Re-Issues:
Ash Ra Tempel & Timothy Leary: Seven Up (1972)
Ash Ra Tempel: Join Inn (1973)
The Beatles: Revolver (Super Deluxe Edition)
Ob man bei den Beatles nun wirklich alle fünf CDs kennen muss, darüber lässt sich streiten. Die neue Abmischung ist es aber wert. Man hört tatsächlich Details heraus, die vorher kaum aufgefallen sind, zudem ist die Platte nun auch im Kopfhörer abhörbar, was bei der ursprünglichen Stereomischung schwer zu ertragen war.
Die beiden Ash Ra Tempels sind 50th-Anniversary-Editions (ja, so lange ist das schon wieder her), unter Manuel Göttschings Aufsicht neu vom Originalmaster geschnitten, und sie katapultieren einen direkt ins Jahr 1972 zurück. Entstanden ist Seven Up in einem Studio in Bern mit Timothy Leary, der aus Algier kommend in die Schweiz geflüchtet war. Der Titel bezieht sich sowohl auf Learys Lieblingsbrause wie auch auf eine von ihm entwickelte Mindmap, die die sieben Ebenen des Bewusstseins beschreiben sollte. Seine Idee war, dass dies musikalisch vielleicht eher möglich sein könnte als schriftlich. Join Inn ist die letzte Zusammenarbeit der Gruppe mit Klaus Schulze, den sie während der Sessions zu Walter Wegmüllers Album Tarot wiedertrafen. Das Treffen führte zu einer Endlosimprovisation der drei, "Freak 'n' Roll" genannt, ein Ausschnitt daraus füllt die gesamte Seite 1. Schulze rührt hier sehr emsig in den Trommeln -- zum letzten Mal. Die Seite 2, betitelt "Jenseits" wird von Schulzes Keyboardspiel dominiert, zu dessen Klängen Rosi Müller in latent wirren Wortfetzen die Geschichte des Treffens mit Leary erzählt. Beide Platten zusammen bilden ein dichtes Spiegelbild dessen, was in jenen Jahren "Krautrock" darstellte. Leary hat in seiner Autobiographie kein Wort über die Produktionen verloren, Manuel Göttsching fand zu seinem wirklich markanten, an ein akustisches Mobile erinnernden Gitarrenstil erst 1975 mit seinen Inventions For Electric Guitar. Die Platten erinnern aber auch an die Anfänge Klaus Schulzes, der dieses Jahr verstorben ist und mit Deus Arrakis ein wirklich verdammt starkes Abschiedswerk hinterlassen hat -- so schließt sich ein Kreis.
Ein Radiotipp: Anlässlich des 75. Geburtstages des Hamburger Klangkünstlers und Komponisten Asmus Tietchens hat der ORF ein einstündiges Portrait gesendet. Eine Sendung von Heinrich Deisl, und trotz des etwas eigenwilligen Fotos sehr hörenswert.
(Und ja, ich weiss, ich habe vor langer Zeit einmal damit begonnen, Tietchens‘ Veröffentlichungen chronologisch vorzustellen. Es geht weiter.)
Don't ask me what this title means -- I don't know. But anyone who has ever dealt with snooker knows who Steve Davis is, and so do I. And Kavus Torabi? He's not only a nicely chaotic guy, he's the officiating head of Gong, and it was still Daevid Allen personally who has chosen Kavus to take the helm. And yes, Gong still exists (their latest sign of life is the live double album Pulsing Signals).
Steve Davis OBE is known for having won everything you can win in snooker. But he's also known for having a huge collection of soul records and being well-sorted in several other music genres, especially prog. And since several years he has a radio show on local station Phoenix FM, Brentwood and Billericay. Since he invited Kavus to be his guest on this show, the two of them are friends. They even run a sort of electronic band project together, The Utopia Strong, Steve also is deejaying sometimes.
Medical Grade Music is a sort of mail exchange between Kavus and Steve, discussing their personal music and record histories and preferences. A lot of this stuff is simply unknown to me, but there are chapters on Magma, Stray Cats, Gentle Giant, Zappa, Pink Floyd, Leonard Cohen, Die Laughing, Henry Cow, Cardiacs, and of course Gong. Even Neu! is mentioned somewhere. All this stuff is connected to their life, their growing-up and their musical progression, which especially on Kavus' side (who comes from Tehran originally) is colorful and sometimes adventurous -- and fun to read anyways.
The book has 330 pages and comes with several appendices, listing their top records, favorite artists, last DJ sets, Steve's rig rundown, and more. It's available still as hardcover but now also as paperback and e-book. And it gives you many many opportunities to put your trusted streaming service through its paces.
Steve Davis and Kavus Torabi: Medical Grade Music
White Rabbit Books, London 2021
ISBN 978-1-4746-1849-3
Nach Live in Stuttgart 1975 und Live in Brighton 1975 nun also Live in Cuxhaven 1976. Es ist das dritte Can-Album, das mit dem Recorder aus dem Publikum heraus aufgenommen und nun im Studio etwas klangpoliert wurde. Zu hören sind vier Stücke ohne Titel. Für ein Bootleg wäre die Qualität sehr gut, für eine offizielle Veröffentlichung ist sie eher bescheiden -- eine Ansichtskarte für Fans, so muss man sie wohl hören. Die Vinylversion kommt diesmal in einem "Curacao" genannten Blauton.
Während Stuttgart und Brighton jeweils Doppelalben mit den kompletten Konzerten waren, ist Cuxhaven eine Einzel-LP, noch dazu mit einer sehr dürftigen Spieldauer von gerade mal 29 Minuten, beendet mit Irmins Ansage, man mache nun eine Pause von 20 Minuten, danach werde man weiterspielen. Aus Fankreisen ist zu vernehmen, der zweite Teil sei der weitaus bessere gewesen, aber das ist nun leider nicht überprüfbar.
Can spielt in Viererbesetzung (Irmin, Michael, Holger, Jaki) und liefert mehr oder weniger die gewohnte improvisierte Qualität, wobei Jakis Schlagzeugspiel gelegentlich ins Hektische kippt und eher an Schnellpolka als an Rockmusik erinnert, auch Michael scheint nicht seinen besten Tag erwischt zu haben.
Teile der Auflage enthielten anscheinend keinen Download-Code, andere Teile enthielten die Linernotes zum Stuttgart-Konzert. Das scheint nun in Ordnung gebracht worden zu sein. Ein viertes Live-Album soll noch kommen; für mich ist derzeit das Stuttgart-Album das beste der Reihe.
Jefferson Airplane, one of my all-time favorites, received their star on the Walk Of Fame just a couple of minutes ago -- CONGRATULATIONS!
(Coverage starts at 12'00)
Amerikas Country-Queen Loretta Lynn ist letzte Nacht gestorben. Immerhin freundliche 90 ist sie geworden. Was mir in Erinnerung ruft, dass ich vor jetzt zwölf Jahren in einem längst dahingeschiedenen Drehbuchautorenforum ein paar Zeilen über den Film Coal Miner's Daughter geschrieben habe, die ich aus besagtem Anlass hier einmal wieder ans Tageslicht hole -- der Film ist nämlich wirklich sehenswert.
Diesen Film habe ich mir gestern nacht angesehen, weil er entfernt mit dem Sujet zu tun hat, an dem ich gerade arbeite. Ich war erstaunt (obwohl ich es im Prinzip wusste), dass der Film schon 30 Jahre alt ist [42 demnach heute]. Das Buch ist von Tom Rickman, Regisseur ist Michael Apted.
Der Film ist ein Biopic, beruhend auf den Erinnerungen der Countrysängerin Loretta Lynn (gespielt von der wunderbaren Sissy Spacek) und diversen Interviews. Zwei Dinge, die mir besonders aufgefallen sind:
Die (US-) DVD enthält ein 15-minütiges Gespräch mit der wirklichen Loretta Lynn von 2003, und es ist ein Erlebnis, zu sehen, wie sich Sissy Spacek Lorettas Gestik, Mimik, Sprechweise und Kentucky-Dialekt angeeignet hat. Das können wirklich nur die Großen. Das kann man so auch gar nicht ins Drehbuch schreiben. (In der Synchronfassung geht es natürlich eh verloren.) Und zweitens: Selbst für die beste erwachsene Schauspielerin ist es sehr schwierig, ein 14-jähriges Mädchen darzustellen. Es kommt immer rüber, dass sie eine erwachsene Frau ist.
Dramaturgisch fällt ein gewisses Ungleichgewicht auf zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des Films. Zunächst geht es darum, wo Loretta herkommt, wie sie mit 13 heiratet, vier Kinder bekommt, und sich dazwischen nach und nach ihr Gesangstalent so herauskristallisiert, dass irgendwann ihr Mann auf die Idee kommt, dass man daraus eine Karriere machen könnte. Er ist dann auch derjenige, der den Start aufs Gleis setzt, von der selbstbezahlten Plattenaufnahme übers Abgrasen der Country-Radiostationen bis zu ersten Erfolgen. Dieser Teil ist reichlich lang geraten, gemessen an der dann abgehoben habenden Karriere im zweiten Teil des Films, die schließlich zu Lorettas Zusammenbruch und (am Ende) Neustart führt. So richtig wird nicht klar, wie diese Karriere läuft, welcher Preis mit ihr verbunden ist und warum sie trotz des kommerziellen Erfolges schiefläuft.
Gut geglückt dagegen ist, zu zeigen, wie Doo (Lorettas Mann, von Tommy Lee Jones gespielt), nachdem er ihre Karriere erfolgreich auf den Weg gebracht hat, zu ihrem immer überflüssigeren Anhängsel wird und damit natürlich nicht klarkommt. Sehenswert auch Beverly D'Angelo, die die Countrysängerin Patsy Cline (Lorettas dickste Freundin) spielt. Beide Darstellerinnen singen übrigens selbst, es wird nicht einfach zu den Originalsongs geplaybackt. Gut so, die beiden sind auch prima Sängerinnen.
Ich habe den Film erstmals irgendwann Mitte der 80er auf RTL oder weißichwo gesehen, und schon damals ist mir aufgefallen, was sich mir gestern noch einmal bestätigt hat: Dass Country eine sehr authentische und lebendige Musik ist, wenn man sie in die Umgebung und Atmosphäre stellt, aus der sie kommt und in die sie gehört. Nicht zu verwechseln mit dem Countrykommerz, der heute die Charts füllt.
Im Zusammenhang mit Reichs Gesprächsbuch "Conversations" hatte ich auf das bevorstehende Erscheinen von Reich/Richter schon hingewiesen. Seit einigen Wochen liegt die CD nun vor und bereitet mir große Freude.
Der Reich-typische Puls ist natürlich da, Reichs Vorliebe für symmetrische Strukturen ebenfalls, das Prinzip der "Arche" (ABCBA) wird wieder durchgehalten, und wie schon in anderen Kompositionen spielt das Vibraphon die Rolle eines Signalgebers, der den Wechsel zu einem neuen Abschnitt einleitet. Wer die Musik von Steve Reich kennt, ist sofort "drin". Und doch weiß Reich/Richter zu überraschen, denn so sehr man auch meint, Reichs kompositorische Signaturen zu kennen, so gelingt es ihm doch, ihnen Varianten abzuluchsen, die man so noch nicht gehört hat.
Reich/Richter ist im Prinzip der zweite Teil einer Komposition, deren erster Teil von Arvo Pärt stammt. Der von Reich geschriebene Teil bildet die Filmmusik zu einem Portraitfilm von Corinna Belz (2019) über den Maler Gerhard Richter, von dem auch das Coverbild der CD stammt. Das Werk besteht aus vier Sätzen ("Opening", "Patterns & Scales", "Cross Fades" und "Ending"). Auf dem erwähnten Puls werden diesmal nicht kleine sich wiederholende Melodiepartikel aufgebaut, sondern man hat das Gefühl, in ein Spiegelkabinett aus Klangtupfern und aufwärts laufenden Arpeggios geraten zu sein, die durch Echogeräte laufen (es ist aber immer das ohne elektronische Helferlein spielende Ensemble InterContemporain; das Ganze ist ein Livemitschnitt von 2020). Im langsamen dritten Teil, "Cross Fades", werden liegende Töne von einem Instrument zu einem anderen weitergereicht. Das ergibt einen Morphing-Effekt, als würde sich die Klangfarbe des jeweiligen Tons fließend verändern.
Im Booklet findet man ein ausführliches Interview mit Steve Reich, der auskunftsfreudig wie immer ist.
Steve Reich:
Reich/Richter
Ensemble InterContemporain, Ltg. George Jackson
Nonesuch 2022
(Dieser Post erschien zuerst in manafonistas.de)
"Der Westcoast-Mythos -- Eine leicht verklärte Erinnerung", so hat Ingeborg Schober eine fünfteilige Serie überschrieben, die sie 1973 in Sounds veröffentlichte, der damals amtlichen deutschen Rockmusikgazette. Die Serie beruhte auf Interviews mit Bands, vielen Platten, Lillian Roxons "Rock Encyclopedia" und vor allem dem Besuch vor Ort: in der Bay Area zwischen Berkeley und Los Angeles.
Diese Serie liegt nun wieder vor, kompakt als ein schönes, jackentaschengerechtes Büchelchen mit knapp 160 Seiten, herausgegeben von Gabriele Werth als eine Art Nachlieferung zu ihrem Schober-Sammelband "Die Zukunft war gestern" (2021), und deutlich interessanter als es das Cover vermuten lässt. Es enthält neben Schobers Originaltext Faksimiles der Sounds-Seiten sowie zwei leicht gekürzte Kapitel aus ihrem Buch "Tanz der Lemminge" (1979) über die Band Amon Düül II.
Ingeborg Schober war nicht nur die erste Frau, die es im damals wie heute männerdominierten Musikjournalismus zu Ansehen brachte, sondern auch eine, die einen eigenständigen, sofort erkennbaren Ton entwickelte, und wenn man diesen Ton kennt, fühlt man sich sofort zu Hause. Dass sie es mit Fakten nicht immer allzu genau nimmt, verzeiht man gern -- so macht sie etwa Marty Balin zum Kanadier oder hört aus Songtexten falsche Zeilen heraus. Man muss im Kopf behalten, dass sie damals nicht auf das Internet zurückgreifen konnte.
Ihr Blick auf die Dinge ist deutsch. Nun kann man natürlich sagen: Klar, sie ist ja Deutsche, und ihre Leser degleichen, doch führt das gelegentlich dazu, dass sie deutsche Maßstäbe an amerikanische Gepflogenheiten anlegt, was dann zu falschen Einschätzungen führt. In manchen Fällen kennt sie auch einfach Infrastrukturen nicht; sie weiß zum Beispiel offenkundig nicht, wie Platten ins amerikanische Radio gelangen. Obendrein hält sie anscheinend die Bezeichnung "Frisco" für besonders schnittig, dabei ist Frisco eine Kleinstadt in Texas, und in SanFrancisco hört man diese Verballhornung gar nicht gern (dort spricht man, wenn es schon kurz sein muss, von "SF" oder schlicht "the City").
Das ist aber alles Kleinkram, über den man schnell hinwegliest. Denn Ingeborg Schober hat die Gabe, die Atmosphäre jener Jahre und Gegend einzufangen und so wiederzugeben, dass man sie fast zu spüren glaubt -- wie man natürlich auch sofort die alten Platten wieder ausgräbt oder den Streamingdienst seines Vertrauens auf Herz und Nieren prüft. Denn das ist klar: Der Westcoast-Mythos beinhaltete viel mehr Musik von viel mehr Bands als wir es heute noch wissen. Grateful Dead, Creedence Clearwater Revival, Janis Joplin with Big Brother & The Holding Company, CSN & Y, Blue Cheer, Sir Douglas Quintet, It's A Beautiful Day, die Byrds, die Turtles, Buffalo Springfield, Country Joe & The Fish und viele mehr kommen vor, und ihre damalige Bedeutung wird ebenso eingeordnet wie ihre Vielfalt. Dass die meisten davon, heute gehört, dann doch nicht mehr so recht überzeugen, kann eine überraschende Erkenntnis sein. Liest man, wie wild sich Jim Morrison auf der Bühne aufgeführt haben soll (ja, der legendäre Vorfall wird erwähnt, auch wenn niemand weiß, ob er überhaupt stattgefunden hat), dann staunt man doch, wie friedlich eigentlich die Musik der Doors war. Man ist heute ganz anderes gewohnt. Deutlich wird auch, dass nur wenige dieser Bay-Area-Bands mit der musikalischen Kompetenz von Jefferson Airplane mithalten konnten, die deswegen auch quer durch das Buch immer wieder vorkommen.
Dass die Musiker -- insbesondere Grace Slick, aber auch der anderen Bands -- sehr zugänglich waren, in der Regel nicht herumzickten und von Fans jederzeit angesprochen werden konnten, ist ein Phänomen, das wir bei heutigen durchgetakteten und securitygeschützen Festivals nicht mehr kennen. Das war das eigentliche San Francisco. Dass damals das politische Geschehen im Umfeld der Bay Area, der Universitäten, der Bands und Jahre dramatisch überschätzt wurde, verwundert aus heutiger Sicht nicht -- wie man auch manchmal darüber staunt, dass (auch von Ingeborg) bereits mittelgroße kommerzielle Erfolge als "beginnender Ausverkauf" angesehen wurden. Als ob die Plattenindustrie jemals ein Wohltätigkeitsverein hätte sein können und/oder wollen. Im Normalfall aber hält Ingeborg Schober einfach als Chronistin fest, dass man das so sah, widerspricht aber auch nicht. Sie schreibt als Teil der Szene, die sie beschreibt.
Man hat das Buch an zwei Abenden durch, und man freut sich, dass es das alles mal gab und dass dieser Text jetzt wieder zugänglich ist. Ingeborg, wenn sie es wüsste, würde sich riesig darüber freuen -- leicht verklärt.
Ingeborg Schober:
Der Westcoast-Mythos
Eine leicht verklärte Erinnerung
Herausgegeben von Gabriele Werth
Edition kopfkiosk im Verlag Andreas Reiffer, Meine 2022
ISBN 978-3-945715-76-5; 11,50 Euro
(Dieser Post erschien zuerst in manafonistas.de)
Manhattan, Radio City Music Hall, 17. Juni 2022. Seit acht Jahren nicht mehr in den USA gewesen, die für 2020 geplante Jubiläumstour wegen Covid verschoben, aber jetzt sind sie da: Kraftwerk. 1971 sah ich sie zum ersten Mal live, seinerzeit in der Hamburger "Fabrik" vor vielleicht 50 Zuschauern, die ebensowenig wie ich oder die Band selbst eine Vorstellung davon hatten, was aus diesen Typen einmal werden würde. Damals mussten sie ihre eher bescheidene Anlage noch selbst aufbauen, heute stehen drei Trucks vor der Halle und die transportable Bühne ist speziell für die Band designt.
"Sold out" sagt das Billboard. Das stimmt wohl nicht ganz, links und rechts sind noch freie Plätze zu sehen, wenn auch nicht viele. Die längste Schlange im fast kathedralartigen Foyer dieser wunderbaren Halle mit Zwanziger-Jahre-Touch steht interessanterweise nicht vor dem Getränke-, sondern bereits eine knappe Stunde vor Konzertbeginn vor dem Merchandise-Stand.
Ich habe Kraftwerk im Laufe der Jahre nun achtmal gesehen, mit wirklichen Überraschungen war nicht zu rechnen, und es kommen auch keine. Das Konzert beginnt mit dem üblichen elektronischen Wimmelsound, zwölf Minuten lang, dann der bekannte elektronische Spruch: "Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen, heute abend die Mensch-Maschine Kraftwerk". Nachdem vor acht Jahren der Auftritt mit "The Man Machine" begann, hat man sich diesmal wieder für "Nummern" entschieden, wie man es schon 1981 gemacht hat. Nur gab es damals noch nicht die 3-D-Projektion, und die heute synchron zur Musik quer durch den Saal fliegenden Ziffern packen einen dann doch. Besonders eine Viertelstunde später, als zu "Spacelab" ein Satellit mitten im Raum zu stehen scheint und auf der Leinwand ein Raumschiff vor der Radio City Music Hall landet. Auch wenn man das alles schon gesehen hat: Es funktioniert. Der 3-D-Effekt wird teils sehr plakativ, teils aber auch recht subtil eingesetzt und trägt eine Weile, lässt dann aber nach. Kraftwerk geht es nicht anders als den vor einigen Jahren etablierten 3-D-Kinos: Der Effekt ist nett, ersetzt aber die künstlerische Substanz nicht.
Kraftwerk hat keine neuen Stücke im Programm, und ich bin sicher, dass wir auch keine mehr erleben werden. Ralf Hütter hat sich auf das 1-2-3-4-5-6-7-8-Schema festgelegt, für eine 9 ist da kein Platz mehr. Die Band spielt "Greatest Hits", wie immer mit subtilen Veränderungen der Arrangements, Hütter greift wie immer ein paarmal die falschen Tasten, seine Stimme ist inzwischen hörbar gealtert (der Mann ist 75, dafür bewegt er sich noch sehr munter), und was die drei anderen Herren an ihren Pulten machen, bleibt wie immer ein Rätsel. Auch die mit den Armen rudernden "Roboter" haben ihren Auftritt. Auf geheimnisvolle Weise werden sie im Strobelight aus dem Boden hochgefahren, und alle Smartphones leuchten auf:
Das gibt der Band die Gelegenheit, für ein paar Minuten von der Bühne zu verschwinden -- "pee break" nennen das die Amerikaner, schließlich sind die Jungs alle nicht mehr die Jüngsten. Das Ganze endet nach rund zwei Stunden mit dem "Taschenrechner" als Zugabe
und der "Music Non Stop"-Routine, die man schon lange kennt: Jeder der Vier hat ein kurzes Solo, nacheinander gehen sie mit einer Verbeugung von der Bühne ab -- Ralf Hütter als Letzter, für ihn erhebt sich das gesamte Publikum von den Sitzen.
Was kann man sagen? Die Musik von Kraftwerk ist zeitlos, nicht zuletzt, weil sie immer wieder aktualisiert wurde, ohne dass die Substanz verloren gegangen wäre. Lediglich "Trans Europa Express" und "Neon Lights", früher zwei ihrer stärksten Stücke, hängen heute ein bisschen flach in den Seilen, "Autobahn" ist mehr als nötig gekürzt worden. Ein erstaunlich diszipliniertes Publikum, die meisten Zuschauer 40+, einige hatten ihre Kinder mitgebracht. Ein wunderbarer Abend, schönster Retrofuturismus mit leichtem Augenzwinkern, einzig der Sound war nicht ideal, obwohl Kraftwerk eigentlich gerade dafür bekannt ist -- der Bass glich einer Herzmassage und überlagerte etwas unbalanciert die latent verwaschenen Mitten. In der zweiten Hälfte des Konzertes besserte sich dies ein wenig. Einige eingestreute Quadro-Effekte waren wahrnehmbar, gingen aber irgendwie unter, ebenso hatten einige Teile der Projektion Doppelkonturen, die sicher nicht beabsichtigt waren, aber das mag meinem Platz zuzuschreiben sein.
Wer weiß, ob es ein neuntes Mal geben wird.
(Dieser Post erschien erstmalig auf manafonistas.de)
Es gibt nur wenige Gedichte, die ich auswendig kann. Drei davon sind von ihm.
Bye bye, Hans Scheibner, und gute Reise!
Die Grafiken aus Der Sound der Jahre und Times & Sounds gibt es jetzt als Poster:
The graphics from Der Sound der Jahre and Times & Sounds are now available as poster:
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19 Gesprächsprotokolle und ein Vorwort vom Meister selbst, das ist Conversations. Steve Reich, laut New-York-Times-Zitat auf dem Cover "our greatest living composer", ist im Gespräch mit 19 Persönlichkeiten, die im Laufe der Jahre seinen Weg gekreuzt haben: Brian Eno ist darunter, Richard Serra, Nico Muhly, der Dirigent Michael Tilson Thomas, Stephen Sondheim, David Harrington (Kronos Quartet) und weitere. Das Buch, 340 Seiten dick, arbeitet sich mehr oder weniger chronologisch durch das kompositorische Werk Reichs, angefangen bei den Frühwerken "Come Out" und "It's Gonna Rain", über "Drumming", "Music For 18 Musicians", das Vokalstück "Tehillim" (das Reich offenkundig besonders wichtig ist), über die Orchesterwerke ("Variations For Winds, Strings And Keyboards", "The Desert Music"), Reichs erstes Herantasten an die Sampling-Technologie ("Different Trains", "City Life", "WTC 9/11") -- und vieles mehr, bis zu "Reich/Richter" mit dem Ensemble Intercontemporain, Reichs erster Filmmusik, für eine Dokumentation über Gerhard Richter, den er vor einiger Zeit kennen- und schätzengelernt hat. Das Erscheinen von Buch und neuer Platte ist natürlich bestens koordiniert, "Reich/Richter" erscheint Anfang Juni.
Man könnte befürchten, dass es in den Gesprächen viel Lobhudelei von Gesprächspartner zu Gesprächspartner gibt. Das kommt vor, hält sich aber meist in einem sehr erträglichen Rahmen. Wir erfahren, wie Reich von der Deutschen Grammophon zu ECM und von dort zu Nonesuch gekommen ist, was ihn zu Musikwerken inspiriert hat, dass auch er seine Flops erlebt hat, woher seine Liebe zur Symmetrie kommt, weshalb er, der elektronische Instrumente in seiner Musik lange Zeit abgelehnt hat, sich dann doch mit dem Sampler angefreundet hat, welchen Anteil sein jüdischer Glaube an seinen Kompositionen hat (sein Basecap, das inzwischen eine Art Markenzeichen geworden ist, ist eigentlich im Sinne einer Kippa gemeint), und was Musiker daran reizt, seine Werke zu spielen. Einige der Gespräche sind sehr spannend, etwa jenes mit David Harrington, denn "Different Trains" war das erste Stück, bei dem das Kronos Quartet live zu Tonbandaufzeichnungen seiner selbst spielen musste, und das war kniffliger als man vermuten könnte. Einige wenige Gespräche, etwa jenes mit Brian Eno, bleiben merkwürdig flach. Letzteres dürfte daher rühren, dass Eno weitgehend über sich selbst redet, während Reich das offenkundig nur peripher interessiert. Man stellt fest, dass die beiden trotz gegenteiliger Behauptung nicht viel miteinander verbindet.
Conversations ist eine wunderbare Gelegenheit, die Steve-Reich-Platten mal wieder auszugraben. Selbst, wenn man seinen Weg über die Jahre mitverfolgt hat, ist man verblüfft, wie viele Werke von Reich mittlerweile existieren, und vor allem, dass sie sich stärker voneinander unterscheiden als man zu erinnern glaubt. Ich bleibe gespannt.
Er war seit Jahren schwer krank, wirklich überraschend kam sein Tod nicht mehr. Nun ist doch Deus Arrakis sein Schwanengesang geworden, nach "Frank Herbert" auf dem Album X. von 1978 mit Drummer Harald Großkopf und dem mit Arthur Brown produzierten Album Dune von 1979. Der Roman hat ihn nie losgelassen.
Die beiden haben sich nie persönlich kennengelernt, es war gesundheitlich nicht mehr möglich, aber Hans Zimmer hat in seinem Dune-Soundtrack eine Bass-Sequenz aus Schulzes gleichnamigem Album verwendet.
Auch wenn ich irgendwann in der Flut seiner Veröffentlichungen den Faden verloren habe, so haben mich doch einige seiner frühen und mittleren Platten über viele Jahre begleitet. Ich habe Zimmers Worten nichts hinzuzufügen:
In den "Klanghorizonten" vom 16. April 2022 im Deutschlandfunk widmete sich Niklas Wandt zwei Stunden lang dem Thema Krautrock und meinem Buch Der Sound der Jahre.
Hier die beiden Stunden zum Nachhören:
Dies ist Netflix' neuester Streich, sechs Folgen aus Andy Warhols Diaries; Dauer zwischen 55 und 85 Minuten.
Nach Valerie Solanas' Attentat auf ihn begann Andy Warhol damit, per Telefon ein Tagebuch zu diktieren. Das gibt es inzwischen leicht redigiert als Buch (von Pat Hackett), und es bildet die Grundlage für diese Miniserie. Weil dessen Inhalt zu umfangreich selbst für sechs Teile ist, hat Regisseur Andrew Rossi sich für einige Schwerpunkte entschieden: Andys Jahre in Pittsburgh, seinem Geburtsort, den er natürlich verlassen musste, um als Künstler etwas werden zu können, und seine ersten Schritte in New York; es geht um New York der 1980er Jahre, insbesondere die Szene ums "Studio 54", Andys Rolle als Portraitist der Promis; das "15-Minutes"-Konzept, AIDS und seinen unerwarteten Tod. Weitaus wichtiger aber sind die Blicke unter die bunte Oberfläche. Andy Warhol war ganz sicher einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, und doch ist es gar nicht einfach, zu beschreiben, was er eigentlich gemacht hat. Zu seinen größten Werken gehört mit Sicherheit seine erfolgreiche Selbstvermarktung, sein Auftreten in der Öffentlichkeit, in deren Wahrnehmung das (bewusst konstruierte) Image den wirklichen Menschen ersetzte.
Diesen wirklichen Menschen gab es aber, und er spiegelt sich in seinen Liebes- und anderen persönlichen Beziehungen. Die sind das eigentliche Schwerpunktthema; verbunden mit den Namen Jed Johnson, Jon Gould, Jean Michel Basquiat und noch einigen anderen. Dass Andy schwul war, wurde zu Beginn seiner Karriere verdrängt, es gelangte nicht in die Öffentlichkeit -- was interessant ist, denn in seinem Werk springt einem seine Homosexualität ja förmlich ins Gesicht, und zwar von Anfang an, und sie blieb immer sichtbar. Das Ganze wird anhand von Fotos, vielen Filmschnipseln und -- soweit möglich -- mit Zeitzeugeninterviews dokumentiert, wobei es sich auszahlt, dass Andy fast nichts, was er tat, ungefilmt oder unfotografiert ließ. Wo es gar kein Material gab, da greifen die Folgen zu kurzen Reenactments; etwa in jenem Vorkommnis, als während einer Autogrammstunde eine Besucherin Andys Perücke von seinem Kopf riss. Andys Tod, verursacht durch die Nachbehandlung seiner Gallenblasenoperation, nimmt fast die halbe letzte Folge ein und wird reichlich tränenreich serviert. (Die Schmerzen, unter denen er zeitweilig gelitten haben muss und die man ihm auch hier im Film ansieht, kann ich verdammt gut nachvollziehen; anders als er allerdings habe ich die OP dankenswerterweise überlebt.)
Die Serie hat Längen; mehr als einmal habe ich gedacht, sechsmal 45 Minuten hätten es auch getan. Sehenswert sind die Andy Warhol Diaries dennoch, auch wenn ich mir nicht klar darüber bin, ob ich Warhol nun wirklich besser kenne als vorher. Denn natürlich war die Veröffentlichung der Diaries von Anfang an geplant, und entsprechend dürften sie abgefasst worden sein: Wir erfahren also wieder nur das, was Andy uns wissen lassen wollte, und das könnte trotz seiner scheinbaren Ausführlichkeit durchaus wieder nur die nächste Schicht eines Tarnanstriches sein. In der Serie verblüfft der Kniff, den von Bill Irwin gesprochenen Originaltext aus dem Buch mit Hilfe eines Künstlichen-Intelligenz-Verfahrens so zu bearbeiten, dass er fast wie Andys wirkliche Stimme klingt -- allerdings wirklich nur fast, es bleibt stets ein ein etwas blecherner Hauch von Künstlichkeit. Ein Soundtrack-Album gibt es bislang nicht. Sollte es einmal eines geben, werden darauf einige Schätzchen der 1980er Jahre zu hören sein. Und dass der sechste Teil mit Bowies "Loving The Alien" endet, ist passend.
Andys Grab befindet sich in einem Vorort von Pittsburgh, unter ständiger Aufsicht einer Webcam -- Andy hätte vermutlich seinen Spaß daran. Irgendwann in diesem Sommer, das habe ich mir vorgenommen, werde ich es endlich einmal besuchen.
(Dieser Post wurde zuerst veröffentlicht auf manafonistas.de)
Ich glaube, es ist ein in Frankreich gebräuchliches Sprachspiel, Silben zu vertauschen. So wurde der Maestro zu Stromae. Aufgefallen ist mir dieser belgische Künstler vor einigen Jahren, seltsamerweise auf einer Klassik-Webpage, nämlich der von Norman Lebrecht. Der wies auf "Papaoutai" hin, das sofort bei mir hängenblieb, unter anderem, weil ich bemerkenswert fand, wie gut ein französisch gerappter Text klingt.
Dann kam lange nichts. Anfang Januar war es dann, dass Stromae einen neuen Song vorstellte, "L'enfer" -- eigentlich nichts, was besonders spektakulär wäre, hätte es davor nicht eine immerhin siebenjährige Pause gegeben und hätte er dies nicht in einer Nachrichtensendung von TF1 getan. Das ging natürlich durch die Presse. Und jetzt ist das dazugehörige Album da, Multitude. Es ist sehr, sehr hörenswert, auch wenn mein Französisch wirklich sehr, sehr rudimentär ist. Norman Lebrecht zog seinerzeit einen Vergleich zu keinem Geringeren als Jacques Brel, und mir scheint, da ist etwas dran.
Hier übrigens gibt es ein vollständiges, zweistündiges Live-Konzert von Stromae, 2015 in Montréal aufgezeichnet.
Derzeit in der arte-Mediathek, wundersamerweise nicht mal geogeblockt: Thomas Steinaeckers 50-minütiger Film Electronic Vibrations, Untertitel: Ein Sound verändert die Welt.
Drunter tun wir's nicht. Schon der Einstieg zeigt, wie sehr sich die Wahrnehmung elektronischer Musik in den letzten Jahren in ein ganz anderes Genre verschoben hat. Wer heute mit 20-Jährigen über elektronische Musik spricht, muss darauf gefasst sein, dass die darunter völlig selbstverständlich Tanzmusik verstehen. Da ist ein Blick zurück sicher sinnvoll.
Der Film ist arte-typisch Frankreich-orientiert und beginnt gleich mit einem Missverständnis. Die Anfänge der elektronischen Musik werden vor allem in Frankreich verortet, insbesondere bei Pierre Schaeffer. Dessen Musique concrète war in der Tat hochinteressant und ist auch heute noch hörenswert, aber sie hatte (1.) nichts mit elektronischer Musik zu tun, sondern mit Schallplatten, später Tonbändern und aufgezeichneten Originalklängen, und (2.) war Schaeffer keineswegs der erste, der sich an solchen Werken versucht hat. Der erste, dabei würde ich immer bleiben, war Walter Ruttmann mit seiner Klangmontage Weekend von 1930. Da es noch keine Tonbänder gab, kam Ruttmann auf die Idee, Lichttonfilm zu verwenden. Den konnte man schneiden und beliebig montieren. Selbst die große Lotte H. Eisner war begeistert von dem Resultat. Aber wie gesagt: Mit elektronischer Musik haben solche Montagewerke nichts zu tun, ebensowenig wie die im Film erwähnte "Revolution No. 9" vom Weißen Album der Beatles (das eigentlich ohnehin nur zeigt, dass sie Stockhausen nicht so ganz verstanden hatten).
Bis zum nächsten Missverständnis dauert es nicht lange. Natürlich kommt man an der Pionierrolle Karlheinz Stockhausens nicht vorbei, und was sein Sohn Simon zu dessen Werk zu sagen hat, ist allemal spannend. Da bewegen wir uns in der Mitte der 1950er Jahre, das legendäre Studio für Elektronische Musik wurde im tiefen Keller des WDR-Funkhauses gegründet und "Elektronische Musik" groß geschrieben, weil man das, was dort produziert wurde, als eigenständiges Genre wie Jazz oder Streichquartett ansah. Dass Stockhausens erste vollelektronische Studien einiges von den Hörern verlangt haben, ist sicher; mehr noch der legendäre Gesang der Jünglinge, der, weil leicht auf YouTube auffindbar, wahrscheinlich in vielen Fällen das einzige ist, was man von Stockhausen überhaupt kennt. Dass es allerdings, wie der Film behauptet, bei der Aufführung vor Publikum im Sendesaal zu Schlägereien gekommen sei, ist ebenso ein Märchen wie die angebliche Massenpanik bei der Ausstrahlung von Orson Welles' Hörspiel War Of The Worlds oder der Aufruhr bei den Uraufführungen von Stravinskys Sacre du Printemps oder Ravels Bolero. (Aber jeder Komponist hätte sich solches natürlich gewünscht.) -- Das Missverständnis liegt hier darin, dass der Film mit Ausschnitten zu zeigen versucht, Stockhausen habe die Erfahrungen mit seinen elektronischen Werken auf das Orchester übertragen. Nein, hat er nicht! Werke wie Carré für vier Orchester und vier Chöre oder Gruppen für drei Orchester spielen vor allem Stockhausens Idee durch, instrumentale Klangfarben und Klangmischungen und ihre räumliche Positionierung in den kompositorischen Prozess einzubeziehen, und er tat das, etwa in Punkte für Orchester, lange vor den elektronischen Kompositionen. Diese Erfahrungen hat er dann auf seine elektronischen Werke übertragen. Es mag gewisse Gleichzeitigkeiten gegeben haben -- aber wer seine Werke kennt, weiß, dass das ein Lebensthema für ihn blieb.
Und so geht es weiter. Die alte Mär von der musikalischen Wüste im Deutschland der 1960er Jahre, in denen es angeblich nur schreckliche Schlager und sonst nichts gab, darf nicht fehlen, und die selige ach so wilde 68er Zeit desgleichen. Dass Autobahn 1974 ein Geniestreich war, ist unbestritten, dass damit ein neues Musikgenre erfunden wurde, darf man aber anzweifeln -- elektronische Popmusik gab es schon vorher. Ralf Hütters Spruch "Wir können nicht so gut reden, deshalb machen wir Musik" wird ebenso unvermeidlich hervorgekramt wie die falsche Feststellung, der DJ Afrika Bambaataa habe in seinem "Planet Rock" Samples aus Kraftwerks "Trans Europa Express" verwendet. Nein, hat er nicht! Er zitiert kurz das Stück, und das auch noch falsch. Das ist alles. Und natürlich darf nicht fehlen, dass daraus Hip-Hop, Acid House und sonstnochwas hervorgegangen ist. Als ob Musiker wie Quincy Jones oder Herbie Hancock wirklich auf Kraftwerk angewiesen gewesen wären, um groovende Rhythmen zu zaubern -- ich denke ja, Miles Davis' On the Corner war da sehr viel wichtiger, auch wenn die heutigen Musiker das vielleicht gar nicht mehr wissen. Und plötzlich ist man dann holterdipolter in der Love Parade. Aber geschenkt, 50 Minuten sind halt nicht länger.
Trotzdem ist Electronic Vibrations sehenswert. Jean-Michel Jarre, Jan Werner, Peter Baumann und einige andere vermitteln durchaus nachdenkenswerte Einblicke, auch werden einige Künstlerinnen und Künstler vorgestellt, die sich mit der Elektronik befasst haben und von denen ich nie gehört habe. Dass dabei ein Name wie Oskar Sala fehlt, ist bedauerlich. Die unterschiedliche Herangehensweise deutscher und amerikanischer Musiker an den Synthesizer und die resultierende unterschiedliche Musik wird immerhin angedeutet, wenn auch nicht ausgeführt. Aber siehe oben: Man kann in 50 Minuten ein so umfangreiches Feld wie die Geschichte der elektronischen Musik nicht komplett beackern. Der Film gibt eine Menge Anregungen, mal wieder in die Plattenkiste zu greifen.
Auch dieses Jahr soll sie nicht fehlen, die Blütenlese der abgegriffensten Plattheiten und missglücktesten Modeerscheinungen in deutschen und anderen Medien:
Nächstes Jahr wieder. Ohne safe space.