Kraftwerk
Pittsburgh, Stage AE, March 7, 2025
(Scroll down for english translation)
Gerade lese ich ein Interview mit Karlheinz Stockhausen, das er 2004 dem Schweizer Kunstkritiker und -kurator Hans Ulrich Obrist gegeben hat. Immer wieder staune ich, welch ein ungeheures Potenzial von Kreativität und künstlerischer Wachheit der Komponist noch drei Jahre vor seinem Tod, im Alter von immerhin 76 Jahren, zu vermitteln verstand. Bis zuletzt hat dieser Mann immer wieder neue Ideen produziert und neue Kompositionen vorgelegt, elektronische ebenso wie akustische. Und auch über die Live-Präsentation seiner Werke unter räumlichen Gesichtspunkten hat er stets nachgedacht. Das war ein Lebensthema für ihn -- an Gruppen sei erinnert, das drei Orchester im Konzertsaal verteilte und dabei die räumliche Anordnung und Interaktion der Instrumente zum Teil der Komposition machte. Es gab den elektronischen Gesang der Jünglinge, ein fünfkanaliges Werk: Vier Kanäle um das Publikum herum, ein fünfter kam von oben. Mit dem Architekten Fritz Bornemann entwarf Stockhausen ein kugelförmiges Rundum-Auditorium, das zur Expo 70 in Japan gebaut (und danach leider abgerissen) wurde. Oder Sternklang, das fünf teils akustische, teils elektronische Ensembles so weit voneinander entfernt in einer Parkanlage aufstellte, dass die sich gegenseitig gerade noch hören konnten. Das Publikum konnte zwischen den fünf Podien spazierengehen. Es gab Fresco, eine von Stockhausen so bezeichnete "Wandelmusik" für vier Orchestergruppen in mehreren Räumen eines Hauses. Der Opernzyklus LICHT spielte die räumlichen Ideen immer weiter durch, bis hin zu einem Streichquartett in vier fliegenden Hubschraubern. Es gab die achtkanalige Oktophonie, und die ebenfalls achtkanaligen Unsichtbaren Chöre, ebenso das letzte noch von Stockhausen selbst realisierte Werk Cosmic Pulses, in dem die präzise ausgetüftelte räumliche Positionierung und Bewegung von Klängen im Raum in eine Komplexität mündet, die (zugegeben) kaum noch differenziert durchhörbar ist.
An all das musste ich denken, als ich letzte Woche (zum neunten Mal seit 1971!) Kraftwerk auf der Bühne erlebt habe. Denn wenn irgendeine Band wirklich prädestiniert wäre, eine solche räumliche Platzierung und Bewegung von Klängen auf der Konzertbühne und dem Raum drumherum zu realisieren, dann wäre das Kraftwerk. Die Gruppe hat Vergleichbares mit einem 32-kanaligen 3D-Tonsystem namens "Wellenfeldsynthese" zumindest in Ansätzen schon gemacht. Lange Zeit auch wurden die Konzerte mit 3D-Projektionen verräumlicht, ihr letztes Jahr 50 gewordenes Superwerk Autobahn hat die Gruppe soeben als räumlichen Dolby-Atmos-Mix wiederveröffentlicht.
Ich hatte gehofft, die derzeitige "Multimedia"-Tournee der Band durch die USA und Kanada mit 32 Stationen würde irgendetwas in dieser Richtung bieten. Aber die Chance wurde leider nicht genutzt.
Stattdessen wurde die klassische Schuhschachtel-Anordnung präsentiert: Vorn die Musiker in den inzwischen bekannten illuminierbaren Neon-Anzügen vor ihren Pulten auf der LED-bestückten Bühne, hinter ihnen ein elektronischer Großbildschirm mit sehr guter Bildqualität, Lautsprecher links und rechts, eine Subwoofer-Batterie vor der Bühne. Geboten wurden "Greatest Hits", dazwischen auch einige eher selten gespielte Stücke ("Tango", "Ätherwellen").
Hier ist die Setlist:
- Numbers / Computer World / Computer World 2
- Home Computer / It's More Fun to Compute
- Spacelab
- Airwaves
- Tango
- The Man-Machine
- Electric Café
- Autobahn
- Computer Love
- The Model
- Neon Lights
- Geiger Counter
- Radioactivity
- Tour de France / Tour de France Étape 3 / Chrono / Tour de France Étape 2
- La Forme
- Trans-Europe Express / Metal on Metal / Abzug
- The Robots
- Planet of Visions
- Boing Boom Tschak / Musique Non Stop
Dass die Band sich von der 3D-Projektion verabschiedet hat, geht in Ordnung, ich habe sie nicht vermisst, zumal die dafür erforderliche Papp-Brille nach einiger Zeit auch lästig wurde. Auch die "live" auftretenden "Robot"-Kleiderständer sind nicht mehr dabei, sie finden nur noch auf der Projektionswand statt. Dieser Gag war nun auch wirklich allmählich abgeleiert. Interessant, nebenbei bemerkt, dass die Figuren im Film immer noch die Gesichter der früheren Bandmitglieder zeigen.
Kraftwerk ist bekannt für exzellente Soundqualität, und ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Was sie allerdings hier in der "Stage AE" klanglich anboten, war leider einfach Matsch. Die relativ kleine Halle war anscheinend einfach "über-equipped". Eine irre Lautstärke brachte sich überschreiende Höhen, überlagert von Bass-Impulsen der Subwoofer, die Tritten in die Magengrube gleichkamen. Ich habe im Laufe der Jahrzehnte viele Konzerte mit hohen und sehr hohen Lautstärken erlebt und überstanden. Dies war das erste Konzert, nach dem ich nicht sicher war, ob ich einen Trommelfellriss oder einen Hörsturz erlitten hatte und die Emergency aufsuchen sollte. Über Nacht hat sich die Sache wieder halbwegs normalisiert. Eine solche Soundkatastrophe sollte einem routinierten Mischpultmann nicht passieren. Und wenn das dann in der Lokalpresse noch als "Spitzensound" bezeichnet wird, dann frage ich mich, ob die Leute überhaupt noch einen Maßstab dafür haben, was in einem Popkonzert "guter Sound" bedeutet. Oder gilt es mittlerweile schon als solcher, wenn das Publikum von der Subwooferbatterie vor der Bühne nur massiv genug durchgeprügelt wird?
Oder sollten solche Fragen der Band mittlerweile egal sein? Es würde zum Gesamtbild des Abends passen: Etliche kleine Pannen (insbesondere der Neonanzüge) waren zu bemerken, die Lustlosigkeit der vier Herren, die kaum mal von ihren Pulten aufsahen, war ebenfalls nicht zu übersehen. Nach "Trans Europe Express" verließen sie die Bühne, kamen dann aber bereits nach wenigen Sekunden wieder zurück und begannen den Zugabenteil.
Dem Publikum schien's weitgehend egal zu sein. Auffällig, aber natürlich kein Wunder, dass ein Generationenwechsel sich nunmehr deutlich abzuzeichnen beginnt. Die "Urfans" brechen allmählich weg, dafür wachsen zunehmend hippieske Fans im Highschool-Alter nach. Für sie allerdings scheint Kraftwerk nur noch eine Band unter vielen zu sein. Den historischen Background der Band kennen sie naturgemäß nicht mehr, für sie ist Kraftwerk ein Projekt der elektronischen Tanzmusikwelle. Auch die bei früheren US-Konzerten (Chicago, New York) immer anwesende Black Community, die man bei anderen Konzerten auch in Pittsburgh normalerweise sieht, war an diesem Abend anscheinend anderswo. Vielleicht aber auch nicht erstaunlich -- die Berührungen zwischen Kraftwerk und den schwarzen Musikszenen Detroits, Chicagos oder New Yorks liegen nun auch schon fast ein halbes Jahrhundert zurück; die damals entstandene Street Credibility Kraftwerks ist zwar noch nicht verflogen, aber für die heute aktive Musikergeneration annähernde Steinzeit.
Wer weiß, was Kraftwerk noch in petto hat. Mit größerer Experimentierlust der Band wird man wohl kaum noch rechnen dürfen, Ralf Hütter als letztes Urmitglied der Band geht nun immerhin auch schon auf die 80 zu. Ich denke ja, irgendwann wird sich die Band ganz in den virtuellen Raum zurückziehen. In Ansätzen (Electric Cafe) hat sie das ja schon gemacht, indem sie sich selbst in Gestalt von Wireframes präsentiert haben -- und damit endet auch heute noch jedes ihrer Konzerte.
Wie auch immer, wer Kraftwerk noch nicht live gesehen hat, sollte die Gelegenheit nutzen. Irgendwann wird es sonst zu spät sein.
I was reminded of all this when I saw Kraftwerk on stage last week (for the ninth time since 1971!). Because if any band were truly predestined to realize such spatial placement and movement of sounds on the concert stage and in the surrounding space, it would be Kraftwerk. The group has already done something similar, at least in part, with a 32-channel 3D sound system called "Wave Field Synthesis." For a long time, their concerts were also spatialized with 3D projections; the group has just re-released their masterpiece Autobahn, which turned 50 last year, as a spatial Dolby Atmos mix.
This was the setlist:
- Numbers / Computer World / Computer World 2
- Home Computer / It's More Fun to Compute
- Spacelab
- Airwaves
- Tango
- The Man-Machine
- Electric Café
- Autobahn
- Computer Love
- The Model
- Neon Lights
- Geiger Counter
- Radioactivity
- Tour de France / Tour de France Étape 3 / Chrono / Tour de France Étape 2
- La Forme
- Trans-Europe Express / Metal on Metal / Abzug
Encores:
- The Robots
- Planet of Visions
- Boing Boom Tschak / Musique Non Stop
It's okay that the band has abandoned the 3D projection; I didn't miss it, especially since the cardboard glasses required for it became annoying after a while. The real "robot coat racks" are also no longer there; they now only take place on the projection screen. This gag was really starting to get a bit worn out. Interestingly, the characters in the film still show the faces of the former band members.
Kraftwerk is known for excellent sound quality, and I can confirm this from my own experience. Unfortunately, what they offered here in "Stage AE" was anything but that. The relatively small venue was apparently simply "over-equipped." A crazy volume produced distorted treble, overlaid with bass impulses from the subwoofers that were like kicks in the gut. Over the decades, I've experienced and survived many concerts with high and very high volumes. This was the first concert after which I wasn't sure whether I'd suffered a ruptured eardrum or sudden hearing loss and needed to seek emergency medical attention. Overnight, luckily things returned more or less to normal. But such a sound disaster shouldn't happen to an experienced mixing console operator. And when the local press calls it "top-notch sound," I wonder if people even have a standard anymore for what "good sound" means at a pop concert. Or does it now count as such when the audience in front of the stage is pounded hardly enough by the battery of subwoofers?
Or could it be that the band no longer cares about such questions? It would fit the overall picture of the evening: Several minor glitches (especially with the neon suits) were noticeable, and the listlessness of the four men, who barely looked up from their desks, was also obvious. After "Trans Europe Express," they left the stage, but then returned after just a few seconds and began the encore.
The audience largely seemed indifferent. Of course no surprise, that a generational shift is now beginning to be clearly visible. The old "original fans" are gradually disappearing, while a growing number of hippie-like high school-age fans are emerging. For them, Kraftwerk seems to be just another band among many. Naturally, they don't know the band's historical background; for them, Kraftwerk is mainly a project of the electronic dance music wave. Even the Black community, always present at Kraftwerk's previous US concerts (Chicago, New York), and usually seen at other concerts in Pittsburgh, seemed to be elsewhere that evening. Perhaps not surprising, though – the contacts between Kraftwerk and the Black music scenes of Detroit, Chicago, or New York date back almost half a century; Kraftwerk's street cred, which emerged back then, may not have vanished, but it's almost a Stone Age phenomenon for the generation of musicians active today.
Who knows what Kraftwerk has in store. One can hardly expect the band to be more experimental; Ralf Hütter, the last original member of the band, is now approaching 80. I think at some point the band will retreat entirely into the virtual world. They've already done this in some way (Electric Cafe) by presenting themselves in the form of wireframes – and that's how every one of their concerts still ends.
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